Will Trent 01 - Verstummt
Michael hatte das Angebot als will-
kommene Ausrede angenommen, um ein paar Bourbons zu kippen und das zu verdauen, was er gesehen hatte.
»Elf...«, zählte Tim. »Zwölf...«
»Du stinkst wie ein Aschenbecher«, sagte Gina.
»Ich habe nicht geraucht.«
»Hab ich auch gar nicht gesagt.« Sie schüttete eine Handvoll Cheerios in den Karton und streckte die Hand nach weiteren aus.
»Vierzehn...«, fuhr Tim fort.
»Ich hab einfach noch ein bisschen Zeit gebraucht.« Michael goss Kaffee in die Tassen. »Leo wollte über den Fall reden.« »Leo brauchte eine Ausrede, um sich zu besaufen.« »Oh-oh«, piepste Tim.
»Sorry, Liebling«, entschuldigte Gina sich bei ihrem Sohn. Ihr Ton wurde sanfter. »Du hast eine Zahl ausgelassen. Was ist mit der Dreizehn passiert?«
Tim zuckte die Achseln. Im Augenblick konnte er erst bis achtundzwanzig zählen, aber Gina sorgte dafür, dass er dabei keine einzige Zahl ausließ.
»Zieh dich jetzt für Ba-Ba an. Sie wird gleich hier sein«, erklärte Gina Tim.
Tim stand auf und hüpfte, von einem Fuß auf den anderen tänzelnd, aus der Küche.
Gina schüttete die restlichen Cheerios in den Karton und setzte sich stöhnend an den Tisch. Sie hatte für dieses Wochenende eine Doppelschicht übernommen, damit ein bisschen mehr Geld ins Haus kam. Der Tag hatte noch gar nicht richtig angefangen, und sie sah bereits erschöpft aus.
»Viel zu tun gestern Abend?«, fragte er.
Sie trank einen Schluck Kaffee und schaute ihn über den aus der Tasse aufsteigenden Dampf an. »Ich brauche Geld für den neuen Therapeuten.«
Michael seufzte und lehnte sich an die Anrichte. Tims alter Sprachtherapeut hatte ihn so weit gebracht, wie er konnte. Der Junge benötigte jetzt einen Spezialisten, und gute Spezialisten wurden von der staatlichen Versicherung nicht bezahlt.
»Fünfhundert Dollar«, sagte Gina. »Das reicht dann bis zum Ende des Monats.«
»O Mann.« Michael spürte Kopfschmerzen heraufziehen und rieb sich mit den Fingern die Augen. Er dachte an den BMW und den Lincoln, die er letzte Nacht in Grady gesehen hatte. Für das Geld, was die beiden kosteten, könnte Tim zu fünfzig Spezialisten gehen.
»Nimm's vom Ersparten«, meinte er.
Sie lachte spöttisch auf. »Von welchem Ersparten?«
Weihnachten. Sie hatten ihre Ersparnisse für Weihnachten geplündert.
»Ich melde mich für noch eine Schicht im Krankenhaus an.« Sie hob die Hand, um seinen Protest abzuwürgen. »Er braucht einfach das Beste.«
»Er braucht seine Mutter.«
»Was ist mit seiner Großmutter?«, keifte sie.
Michaels Gesicht wurde hart. »Ich werde meine Mutter um keinen einzigen Cent mehr bitten.«
Sie stellte die Tasse so heftig auf den Tisch, dass ihr Kaffee auf den Handrücken spritzte. Dieser Streit war unmöglich zu gewinnen - Michael wusste das, hatten sie ihn doch seit fünf Jahren praktisch jede Woche. Er machte bereits Überstunden, brachte zusätzliches Geld nach Hause, damit Tim auch alles bekam, was er brauchte. Gina übernahm zweimal pro Monat Wochenendschichten, aber dass sie auch noch an Feiertagen arbeitete, ließ Michael nicht zu. Er sah sie sowieso kaum noch. Manchmal hatte er das Gefühl, als wollte sie es so. Sie waren kein Ehepaar mehr, sondern eine Interessengemeinschaft, eine Non-Profit-Organisation, die für Tims Wohlergehen arbeitete. Michael konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann sie zum letzten Mal Sex gehabt hatten.
»Cynthia hat gestern Abend angerufen«, sagte Gina. Die verwöhnte Nachbarin. »Sie hat 'ne lockere Bodendiele oder sonst was.«
»Lockere Bodendiele?«, wiederholte er. »Wo ist Phil?«
Sie drückte die Handflächen auf die Tischplatte und stand auf. »Botswana. Mann, ich weiß es auch nicht, Michael. Sie hat nur gefragt, ob du das vielleicht reparieren könntest, und ich habe Ja gesagt.«
»Wolltest du dich vielleicht vorher mit mir absprechen?«
»Mach's oder lass es«, blaffte sie und kippte den Rest ihres Kaffees ins Spülbecken. »Ich muss mich jetzt für die Arbeit anziehen.«
Er sah ihr nach, wie sie den Gang entlangging. Jeder Morgen lief so ab: Tim veranstaltete eine Schweinerei, sie räumten auf, und dann gab's Streit über irgendwas Blödes. Und als Krönung des Ganzen würde gleich Barbara hier auftauchen und etwas finden, worüber sie sich beklagen konnte, ob es sich nun um ihren schmerzenden Rücken handelte, ihre magere Sozialhilfe oder die Tatsache, dass er ihr einen behinderten Enkel geschenkt hatte. In letzter Zeit hatte sie die Angewohnheit,
Weitere Kostenlose Bücher