Will Trent 01 - Verstummt
alte Knabe war schon verwirrt genug, ohne dass sie ihm ihr Herz ausschüttete.
»Ich sollte dich mit diesen ganzen Sachen nicht behelligen.«
»Meh\« Ken machte mit der Hand eine Kreisbewegung. Er wollte mehr hören.
»Michaels Nachbarin war gerade mal fünfzehn.« Angie hielt inne. Hatte Gina Ormewood nicht gesagt, sie sei fünfzehn gewesen, als sie Michael kennenlernte?
Sie fragte: »Wann war der Golfkrieg? Neunzig? Einundneunzig?«
Ken hielt einen Finger in die Höhe.
»Was meinst du, wie alt Michael ist? Vierzig, oder? Da gab's doch letztes Jahr so eine Party für ihn. Ich weiß noch, dass da überall schwarze Luftballons waren.«
Ken nickte.
Angie war kein Mathegenie. Will hätte sich das alles im Kopf ausgerechnet, aber sie brauchte etwas zum Schreiben. In ihrer Handtasche fand sie ein Stück Papier, schrieb die Ziffern mit ihrem Augenbrauenstift darauf und murmelte: »Michael wurde Sechsundsechzig geboren, das von zweitausendsechs abziehen.« Sie kontrollierte die Zahlen noch einmal, um sicherzugehen, dass sie alles richtig gemacht hatte. Dann hob sie langsam den Kopf und schaute Ken an. »Gina war fünfzehn, als sie ihn kennenlernte. Sie sagte, zuerst wäre er an ihrer ein Jahr jüngeren Cousine interessiert gewesen.«
Sie hielt Ken das Papier hin. »Er war fünfundzwanzig. Was macht ein fünfundzwanzigjähriger Mann mit einem fünfzehnjährigen Mädchen?«
Ken gab ein unanständiges Geräusch von sich, dessen Bedeutung unmissverständlich war.
»Sag mir nur noch eins«, fragte sie. »Warst du je mit Michael in den Bergen beim Fischen?«
Der Ausdruck auf seinem Gesicht war so eindeutig, als hätte er den Satz ausgesprochen. Nie und nimmer.
Angie fuhr an ihrem Haus vorbei. Sie versuchte noch immer zu begreifen, was sie während ihres Besuchs bei Ken eigentlich erfahren hatte. Dass Michael Ormewood vor fast fünfzehn Jahren ein fünfzehnjähriges Mädchen umworben und dann geheiratet hatte, war nicht gerade ein Beweis, dass er
jetzt in etwas verwickelt war, aber die Parallelen waren nicht zu übersehen, und Angie war schon zu lange Polizistin, um an Zufälle zu glauben.
Sie ging das Szenario im Geist durch, während sie am Ende ihrer Straße wendete, noch einmal an ihrem Haus vorbei- und dann die Piedmont hinunterfuhr. An der Ampel bog sie links ab, dann an der Ponce de Leon noch einmal links und überlegte sich dabei die möglichen Zusammenhänge. Michael benutzte die Mädchen noch immer, nutzte seine Stellung aus, um kostenlose Nummern zu schieben. Baby G hatte das herausgefunden. Vielleicht war Aleesha Monroe eins der Mädchen gewesen, das Michael ausgenutzt hatte, und Baby G war über diese Schmälerung seines Einkommens nicht begeistert gewesen. Er hatte Monroe umgebracht und dann auch Michaels Nachbarin, um ihm eine Lektion zu erteilen.
Aber warum sollte Baby G Cynthia Barrett umbringen? Auch wenn Michael eine Schwäche für junge Mädchen hatte, hieß das noch nicht, dass er seine Nachbarin vögelte. Und war diese Art von Geilheit nicht normal bei einem Vierzigjährigen? Man musste nur in einer Modezeitschrift blättern oder ins Kino gehen, um leicht bekleidete Mädchen zu sehen, die sich an Männer hängten, die ihre Väter sein könnten. Verdammt, man konnte ja nicht einmal in den Supermarkt um die Ecke gehen, ohne einem Haufen Zwölfjähriger zu begegnen mit T-Shirts, die ihnen gerade über die Brustwarzen reichten, und Jeans, die knapp die Muschi bedeckten. Und ihre Mütter trugen für gewöhnlich das Gleiche.
Angie fuhr an der City Hall East vorbei und bog dann rechts in die Poncey-Highlands ein. Sie bremste und schaute nach, ob Wills Motorrad vor der Tür stand, bevor sie ihr Auto am Straßenrand abstellte.
Sie stieg aus, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Mit der Faust hämmerte sie an die Tür und drückte dann zusätzlich noch ein paarmal auf die Klingel.
Er ließ sich Zeit, bis er an die Tür kam. Sie sah, dass er die Hemdsärmel heruntergekrempelt, die Manschetten aber nicht zugeknöpft hatte. Er trug noch immer seine Weste, und diesen blöden kleinen Hund hielt er in der rechten Hand wie eine Tüte Bonbons.
Sie fragte barsch: »Warum brauchst du immer so verdammt lang, um die Tür zu öffnen?« »Was ist denn los?«
Sie stellte ihre Handtasche auf den Tisch hinter der Tür und ging an ihm vorbei ins Haus. Im Hintergrund lief eine Audio-CD, und auf dem Arbeitstisch lag eine zerlegte Taschenuhr, die er wohl gerade instandsetzte.
Sie betrachtete die winzigen
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