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Will Trent 01 - Verstummt

Will Trent 01 - Verstummt

Titel: Will Trent 01 - Verstummt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
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Misshandlungen gegeben, und ihre glücklichsten Kindheitserinnerungen stammten zum größten Teil aus der Zeit, die sie in Ms. Flannerys Obhut verbracht hatte. Wobei sich die Frau nicht besonders mütterlich oder liebevoll verhielt, aber sie sorgte dafür, dass immer frische Laken auf den Betten lagen, regelmäßig Essen auf dem Tisch stand und die Kinder mit Kleidung versorgt waren. Für die meisten der Kinder, die im ACH lebten, war das die einzige Stabilität, die sie je kennengelernt hatten.
    Angie erzählte den Leuten immer, ihre Eltern seien gestorben, als sie noch ein kleines Kind war, aber in Wahrheit hatte sie keine Ahnung, wer ihr Vater war, und ihre Mutter, Deirdre Polaski, vegetierte gegenwärtig in einem staatlichen Pflegeheim dahin. Speed war Deirdres bevorzugte Droge gewesen, und eine Überdosis hatte sie schließlich in ein irreversibles Koma versetzt. Angie war elf gewesen, als sie Deirdre im Bad fand, über der Toilette zusammengesunken, die Nadel noch im Arm. Zwei Tage lang war sie bei ihrer Mutter geblieben, hatte nichts gegessen und kaum geschlafen. Irgendwann gegen Mitternacht des zweiten Tages war einer der Dealer ihrer Mutter vorbeigekommen. Er hatte Angie vergewaltigt, bevor er einen Krankenwagen für ihre Mutter rief.
    Sie stieg in die Dusche und ließ das Wasser auf sich herabprasseln, um den Dreck dieses Tages abzuwaschen.
    Rusty.
    So hatte er geheißen.
    »Ich bring dich um, wenn du es irgendjemandem sagst«, hatte er sie gewarnt und dabei so fest an der Kehle gepackt, dass sie kaum noch Luft bekam. Die Hose hing ihm noch immer an den Knien, und sie erinnerte sich, wie sie seinen schlaffen Penis anstarrte und die krausen schwarzen Haare an seinen Oberschenkeln. »Ich finde dich, und dann bring ich dich um.«
    Es war nicht ihr Erster gewesen. Dank der endlosen Schlange der Freunde ihrer Mutter war Angie sexuell bereits erfahren. Einige waren nett gewesen, andere aber brutale, gefährliche Bestien, die Angies Mutter vollgepumpt hatten, damit sie sich über ihre Tochter hermachen konnten. Als Angie endlich bei Ms. Flannery im Kinderheim landete, empfand sie nichts als Erleichterung.
    Wills Geschichte war nicht identisch, aber ziemlich ähnlich. Sein Körper war wie eine Schmerzkarte - ob es sich nun um die langen dünnen Narben auf seinem Rücken handelte, wo eine Peitsche seine Haut aufgerissen hatte, oder um den verfärbten Fleck Haut auf seinem Oberschenkel, wo man eine Transplantation vorgenommen hatte, um die Verbrennungen durch Stromschläge zu verschließen. Seine rechte Hand war zweimal zerquetscht worden, sein linkes Bein an drei Stellen gebrochen. Einmal war er so fest und oft ins Gesicht geschlagen worden, dass seine Oberlippe aufgeplatzt war wie eine geschälte Banane. Immer wenn Angie ihn küsste, spürte sie die Narbe an ihren Lippen, und das erinnerte sie daran, was er durchgemacht hatte.
    Das war die große Gemeinsamkeit der älteren Kinder im Waisenhaus: Sie hatten alle eine ähnliche Geschichte. Sie waren alle ungewollt, alle geschädigt. Die Jüngeren blieben nie lange, aber wenn man erst einmal sechs oder sieben Jahre alt war, bestand im Grunde genommen keine Chance mehr, je Teil einer Familie zu werden. Für die meisten von ihnen war das sogar gut. Sie hatten erlebt, wie Familien sein konnten, und zogen deshalb die Alternative vor. Zumindest die meisten.
    Will allerdings gab nie auf. Am Besuchstag stand er vor dem Spiegel, kämmte sich die Haare, strich sich seinen widerspenstigen Wirbel glatt und versuchte sich das Aussehen eines Jungen zu geben, den man gern mit nach Hause nahm. Sie hatte ihn heftig schütteln und ihm sagen wollen, dass er nie adoptiert werden würde, dass kein Mensch ihn wolle. Einmal hätte sie es beinahe getan, aber da war etwas in seinem Gesichtsausdruck, eine Hoffnung, in die sich bereits die Erwartung der Vergeblichkeit mischte, die sie dann
    doch davon abhielt. Anstatt ihn zu schlagen, hatte sie ihn wieder zum Spiegel geführt und ihm beim Kämmen seiner Haare geholfen.
    Angie drehte die Dusche ab und wickelte sich in ein Badetuch. Sie lächelte, als sie sich daran erinnerte, wie sie Will zum ersten Mal im Gemeinschaftsraum gesehen hatte. Er war acht Jahre alt, mit blonden Locken und einem schön geschwungenen Mund. Seine Nase steckte immer in einem Buch. Zuerst hatte Angie angenommen, er sei ein Streber, aber später fand sie dann heraus, dass Will die Wörter nur anstarrte und versuchte, ihnen einen Sinn zu entlocken. Die Ironie war, dass er

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