Will Trent 01 - Verstummt
Unterhemd, und sie stand auf und legte ihre Hände auf seine, als er anfing, es über den Kopf zu ziehen.
Sie war diejenige. Sie war diejenige, die ihn nicht anschauen, die es nicht ertragen konnte, die Zeugnisse all dessen zu sehen, was er durchgemacht hatte. Seine Narben gehörten nicht ihm allein, sie waren Erinnerungen an ihrer beider Kindheit, Symbole für die Männer, die sie missbraucht hatten, für die Mutter, die eine Nadel ihrer eigenen Tochter vorzog. Angie konnte sich mit einem völlig Fremden nackt auf dem Rücksitz eines Autos wälzen, aber sie ertrug es nicht, den Körper des Mannes zu betrachten, den sie liebte.
»Nein«, sagte sie zu ihm. »Ich schaffe das nicht mehr.«
»Wer ist der Kerl?«, fragte er. Da war immer ein Kerl.
Am nächsten Tag rief Angie seine Chefin, Amanda Wagner, an und sagte ihr, sie solle nach dem Kassettenrecorder suchen, den Will immer in seiner Tasche hatte, damit er ihre Unterhaltungen aufnehmen konnte.
»Und ich dachte immer, Sie seien seine Freundin«, erwiderte Amanda. Angie gab ihr eine barsche Antwort, aber in ihrem Herzen wusste sie, dass es das Richtige gewesen war, das Richtige für Will. Wenn er je eine Chance haben wollte auf ein richtiges Leben, auf irgendeine Form von Glück, dann musste er sie sich selbst erarbeiten. Trotzdem brach sie in Tränen aus, kaum dass sie den Hörer aufgelegt hatte. Vielleicht war es ihm gut gegangen da oben in seiner Bergenklave. Doch Angie hatte ihn sehr vermisst. In Wahrheit hatte sie sich nach ihm gesehnt wie ein dummes Schulmädchen.
Und dann hatte die Schlampe ihn nach Atlanta zurückversetzt. Er sei zu gut in seinem Job, um in den Hügeln zu versauern, hatte Amanda behauptet. Außerdem möge sie Will zu sehr, um ihn lange von sich fernzuhalten. Was Will anging, so war sie die größte Annäherung an eine Mutter, die er je gehabt hatte. Sie taten so, als hassten sie einander, zwei rivalisierende Kater, die einander argwöhnisch umkreisten, aber Angie wusste, dass sie auf ihre eigene, gestörte Art ein Team waren. Sie erkannte die Zeichen.
Zugute halten musste man Amanda, dass sie Angie angerufen und sie über die Rückversetzung informiert hatte. »Your boyfriend is back.«
Klugscheißerin, die sie war, hatte Angie den Song beendet: »Hey-la, hey-la.«
Obwohl Angie schon seit Wochen wusste, dass Wills neues Büro sich in ihrem Gebäude befand, und sich darauf vorbereitet hatte, ihm irgendwann einmal über den Weg zu laufen, war sie völlig überrumpelt, als er an diesem Morgen aus dem Aufzug stieg. Ihn mit diesem Arschloch Michael Ormewood zu
sehen, war wie ein Schlag in die Magengrube. Danach hatte Angie sich den ganzen Tag eine Ausrede für einen Besuch bei ihm überlegt. Sie wusste, dass er nach der Arbeit direkt nach Hause fahren würde. Er hatte keine Rendezvous, und soweit Angie wusste, war er, bis auf eine andere kleine Schlampe aus dem Kinderheim, die ihm einen heruntergeholt hatte, nie mit einer anderen Frau zusammen gewesen.
Im Verlauf des Tages wurde ihr beinahe schlecht vor Sehnsucht, ihn wiederzusehen. Nach der Verhaftung von drei Stechern, die das Pech gehabt hatten, sich aus der Schlange von Mädchen vor dem Schnapsladen »Robin« auszusuchen, hatte sie sich von der Tussi, die ihr gegenüber arbeitete, einen Block mit rosa Notizzetteln geklaut, weil sie wusste, dass der grelle Hintergrund Will das Lesen einfacher machen würde. In sorgfältigen Blockbuchstaben hatte sie John Shelleys Namen darauf geschrieben und war dann direkt zu Wills Haus gefahren, bevor sie zu lange darüber nachdenken und ihre Meinung vielleicht ändern konnte. Sie kannte sein Mienenspiel nur zu gut, und an seinem Gesichtsausdruck hatte sie sofort gemerkt, was er dachte, als sie ihm den Zettel gab: Das ist also der Kerl, der Nächste, wegen dem du mich verlassen wirst.
Angie wischte den Dampf vom Badspiegel, sah ihr Spiegelbild und mochte überhaupt nicht, was sie sah. John hatte gesagt, sie sei hübsch, aber er sah nur die Oberfläche. Darunter war sie
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eine alte Schlampe, eine elende Hexe, die jedem, den sie traf, nur Leid brachte.
Will zerbrach sich den Kopf wegen John Shelley, aber weiter daneben hätte er nicht liegen können. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Will die Wahrheit herausfand. Er konnte kaum ein Buch lesen, aber die Zeichen lesen konnte er mehr als deutlich. Was Angie in ihrem Leben so ziemlich am meisten bedauerte, waren nicht die elf Männer oder ihre komatöse Mutter und nicht einmal der Kummer, den sie
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