Will Trent 01 - Verstummt
Sein Name war in der Rubrik Besitzer über der Adresse des Anwesens eingetragen. »Das verstehe ich nicht.«
»Du besitzt dieses Haus völlig schuldenfrei«, fuhr sie fort. »Du hast es in fünf Jahren abbezahlt.«
Er hatte in seinem Leben noch nie etwas besessen außer einem Fahrrad, und auch das hatte Richard ihm nach seiner ersten Verhaftung abgenommen. »Wie viel hat es gekostet?«
»Zweiunddreißigtausend Dollar.«
Bei dem Betrag musste John schlucken. »Woher sollte ich so viel Geld haben?«
»Was weiß denn ich?« Sie schrie das so laut heraus, dass er zurückwich. »Joyce...«
Sie deutete mit dem Zeigefinger auf sein Gesicht und sagte: »Ich frage dich das jetzt nur noch einmal, und ich schwöre bei Gott, John, ich schwöre bei Mamas Grab, wenn du mich anlügst, werde ich dich so schnell aus meinem Leben tilgen, dass du nicht weißt, wie dir geschieht.«
»Du klingst wie Dad.«
»Das war's.« Sie wandte sich zum Gehen.
»Warte«, sagte er, und sie blieb stehen, drehte sich aber nicht um. »Joyce - irgendjemand hat meine Identität gestohlen.«
Sie ließ die Schultern hängen. Als sie ihn schließlich wieder anschaute, sah er alles Schreckliche, womit er es je zu tun gehabt hatte, in ihr Gesicht eingegraben. Sie war jetzt ruhig, der Zorn verraucht. »Warum sollte jemand deine Identität stehlen?«
»Zur Tarnung. Um seine Spuren zu verwischen.«
»Aus welchem Grund? Und warum gerade deine?«
»Weil derjenige dachte, ich würde nie wieder herauskommen. Er dachte, ich würde für den Rest meines Lebens im Gefängnis verrotten, so dass er meine Identität benutzen könnte, um selber nicht erwischt zu werden.«
»Wer hat das gedacht? Wer tut dir das an?«
John spürte den Namen in seiner Kehle kratzen wie eine Glasscherbe. »Derselbe, der Mary Alice umbrachte.«
Bei der Erwähnung des Namens zuckte Joyce zusammen. Sie schwiegen beide, nur das Rauschen des Wassers in der Waschanlage und das Surren der Staubsauger durchbrachen die Stille.
John zwang sich, den Abstand zwischen ihnen beiden zu verringern. »Derjenige, der mir damals den Mord an Mary Alice in die Schuhe geschoben hat, versucht das Gleiche wieder.«
Sie hatte Tränen in den Augen.
»Ich war es nicht, Joyce. Ich habe ihr nichts getan.«
Ihr Kinn zitterte, sie versuchte, ihre Gefühle zu kontrollieren. »Ich war es nicht.«
Sie schluckte. »Okay«, sagte sie. »Okay.« Sie schniefte, atmete einmal tief durch. »Ich muss jetzt wieder in die Arbeit.« »Joyce...«
»Pass auf dich auf, John.« »Joyce, bitte.« »Leb wohl.«
Kapitel 25
9.30 Uhr
Will beobachtete Pete Hansons Hände, während der Leichenbeschauer Cynthia Barretts Bauch und Brust mit geschickten Bewegungen zunähte. Mit groben Stichen verschloss er den Y-Schnitt wieder, den er zu Beginn der Autopsie vorgenommen hatte. Während der Prozedur hatte Will sich eher auf einzelne Körperteile konzentriert als auf das Ganze, aber jetzt war nicht mehr zu verdrängen, dass Cynthia Barrett ein menschliches Wesen war, fast noch ein Kind. Mit ihrem schlanken Körper und den zarten Gesichtszügen hatte sie beinahe etwas Elfenhaftes an sich. Wie ein Mann diesem Mädchen so etwas hatte antun können, überstieg seine Vorstellungskraft.
»Das ist traurig«, sagte Pete, als könnte er Wills Gedanken lesen.
»Ja.« In dem Moment, als er die Leichenhalle betreten hatte, musste Will die Zähne zusammenbeißen. In seiner Karriere als Verbrechensbekämpfer hatte Will schon alles Mögliche gesehen, was man Menschen angetan hatte, aber es schockierte ihn immer noch, wenn ein Kind das Opfer war. Er musste dann an Angie denken, an die abscheulichen Dinge, die sie erlebt hatte, als sie noch ein
kleines Mädchen war. Bei dem Gedanken krampfte sich ihm der Magen zusammen.
Die Tür ging auf, und Michael Ormewood kam herein. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, und an seinem Kinn klebte ein Fetzchen Papiertaschentuch - offensichtlich hatte er sich beim Rasieren geschnitten.
»Tut mir leid, dass ich zu spät komme«, sagte Michael.
Will schaute auf seine Armbanduhr; es war eher ein Reflex, aber als er den Kopf wieder hob, sah er, dass Michael irritiert wirkte.
»Schon okay«, sagte Will und erkannte, dass er das Falsche gesagt hatte. So versuchte er es mit: »Dr. Hanson ist eben am Abschließen. Sie haben nichts versäumt.«
Michael schwieg, und Pete löste die Spannung mit den Worten auf: »Ihr Verlust tut mir sehr leid, Detective.«
Nach ein paar Sekunden nickte Michael. Er wischte sich
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