Will Trent 01 - Verstummt
Mädchen.
Johns einziger Trost war der Gedanke an Michael Ormewoods Gesicht, wenn er in seine Garage ging, um die Pornohefte zu holen, die er ganz unten in seiner Werkzeugkiste versteckte, und dort sein altes Messer neben der Zunge des jungen Opfers fand.
»Shelley!«, schrie Art. John schnellte in die Höhe. Er hatte neben einer Limousine gekniet und Fliegendreck von der vorderen Stoßstange gerubbelt.
»Sir?«
»Ein Besucher.« Art deutete mit dem Kopf in den hinteren Teil des Gebäudes. »Aber vorher ausstempeln.«
John stand wie erstarrt da. Ein Besucher. Ihn besuchte doch niemand. Er kannte keinen Menschen.
»Yo, yo«, murmelte Ray-Ray. Seit dem Vorfall mit der Nutte herrschte zwischen ihnen ein unheimlicher Friede.
»Ja?«
»Es ist ein Mädchen.« Kein Bulle, das war es, was er meinte.
Ein Mädchen, überlegte John, und seine Gedanken rasten. Das einzige Mädchen, das er kannte, war Robin.
»Danke, Mann«, sagte er zu Ray-Ray, steckte sich das T-Shirt in die Hose und ging in den hinteren Teil der Waschanlage. Beim Ausstempeln sah er sich im Spiegel über der Stechuhr. Trotz der kühlen Luft hatte er Schweißtropfen auf der Stirn. Mann, wahrscheinlich stank er auch nach Schweiß.
John fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und öffnete die Hintertür. Sein erster Gedanke war, dass das Mädchen, das dort stand, nicht Robin war, und sein zweiter, dass es eigentlich kein Mädchen war, sondern eine Frau. Joyce.
Er war nervöser, als wäre es tatsächlich die Prostituierte gewesen, die ihm einen Besuch abstattete, und er schämte sich wegen der billigen Klamotten, die er anhatte. Joyce trug einen eleganten Hosenanzug, den sie mit Sicherheit nicht bei einem Discounter erworben hatte. Die Sonne zauberte kastanienbraune Glanzlichter auf ihr Haar, und er fragte sich, ob es Strähnchen waren oder ob ihre Haare schon immer so ausgesehen hatten. Er erinnerte sich, wie Joyces Gesicht sich verzerrte, wenn sie wütend auf ihn war, an das Lächeln, das ihre Lippen umspielte, wenn sie ihn zwickte, an das Feixen, wenn sie ihn schlug, weil er sie an den Zöpfen gezogen hatte. Doch er erinnerte sich nicht an die Farbe ihrer Haare, als sie noch Kinder waren.
Sie begrüßte ihn mit einer Frage: »In was bist du verwickelt, John?«
»Wann hast du wieder angefangen zu rauchen?« Sie nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette in ihrer Hand und warf sie dann auf den Boden. Er sah zu, wie sie die Kippe mit der Schuhspitze austrat und sich dabei wahrscheinlich vorstellte, es sei sein Kopf. Sie stieß den Rauch aus. »Beantworte meine Frage.« Er schaute sich um, obwohl er wusste, dass sie allein waren. »Du solltest nicht hier sein, Joyce.« »Warum beantwortest du meine Frage nicht?« »Weil ich nicht will, dass du etwas damit zu tun hast.« »Du willst nicht, dass ich etwas damit zu tun habe«, wiederholte sie ungläubig. »Aber mein Leben hat damit zu tun, John. Ob ich es will oder nicht, du bist mein Bruder.«
Er spürte ihre Wut wie Hitze, die von ihrem Körper abstrahlte. Es wäre ihm fast lieber gewesen, sie hätte ausgeholt und ihn geschlagen, hätte auf ihn eingeprügelt, bis ihre Fäuste schmerzten und ihre Wut verraucht war.
Sie sagte: »Wie kannst du Kreditkarten haben, wenn du im Gefängnis bist?« »Ich weiß es nicht.« »Ist es erlaubt?«
»Ich...« Er hatte über diese Frage noch gar nicht nachgedacht. »Bargeld darf man keins haben, aber...« Er versuchte, es zu Ende zu denken. Man konnte eine Verwarnung bekommen oder sogar in Einzelhaft geraten, wenn man im Gefängnis Bargeld besaß. Alles, was man in der Kantine kaufte, wurde über das interne Konto abgerechnet, und es war nicht erlaubt, sich irgendetwas per Post zu bestellen.
»Ich weiß es nicht.«
»Ist dir klar, dass Paul Finney, falls er irgendwas rausfindet, dich vor einem Zivilgericht bis auf den letzten Penny verklagt?«
»Da ist nichts zu holen«, sagte John. Seine Mutter hatte genau aus diesem Grund alles Joyce hinterlassen. Nach dem Gesetz zur Opferentschädigung konnte Mary Alices Familie alles einklagen, was John je besitzen würde. Mr. Finney war wie ein kreisender Hai, der auf einen Tropfen von Johns Blut im Wasser wartete.
Joyce sagte: »Du besitzt ein Haus in Tennessee.«
Er konnte sie nur sprachlos anstarren.
Sie zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus ihrer Jackentasche. »Elton Road neunundzwanzig in Ducktown, Tennessee.«
Er nahm das Blatt, ein Fotokopie des Originals. Oben standen die Worte »Offizielle Besitzurkunde«.
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