Will Trent 01 - Verstummt
über den Mund und entfernte dabei das Fetzchen vom Kinn. Überrascht blickte er das blutige Papier zwischen seinen Fingern an und warf es in den Abfalleimer. »Zu Hause war's ein bisschen schwierig.«
»Kann ich mir vorstellen.« Pete klopfte ihm auf die Schulter. »Mein Beileid.«
»Ja«, pflichtete ihm Will bei, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte.
»Sie war ja nur eine Nachbarin, aber trotzdem...« Michaels Lächeln wirkte gekünstelt, als hätte er Schwierigkeiten, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. »Es macht einen fertig, wenn so etwas einem so unschuldigen Kind passiert.« Will beobachtete, wie sein Blick nun zu der Leiche wanderte, sah Verzweiflung in seinen Augen aufblitzen. Michael streckte die Hand aus, als wollte er über die blonden Haare streichen, zog sie dann aber wieder zurück. Will erinnerte sich, dass Michael sich tags zuvor genauso verhalten hatte. Es war, als wäre Cynthia sein eigenes Kind, nicht das seines Nachbarn.
»Armes Baby«, flüsterte Michael.
»Ja«, pflichtete Pete ihm bei.
»Sorry, Jungs«, sagte Michael. Er räusperte sich ein paarmal, wie um sich zusammenzureißen. »Was haben Sie, Pete?«
»Ich wollte eben meine Zusammenfassung mit Agent Trent durchgehen.« Pete fing an, das Tuch, das den unteren Teil der Leiche bedeckte, zurückzuziehen.
Michael zuckte sichtlich zusammen. »Nur das Wichtigste, okay?«
Pete zog das Tuch wieder hoch, bis knapp unter den Hals des Mädchens, und erklärte dann: »Ich glaube, sie ist gestolpert und hat sich den Kopf
angeschlagen. Die Wucht des Sturzes zertrümmerte ihr den Schädel über der rechten Schläfe. Beim Aufprall wurde der Hals verdreht und das Rückenmark beim Wirbel C-2 durchtrennt. Der Tod trat augenblicklich ein. Ein verhängnisvoller Unfall, bis auf die fehlende Zunge.«
Michael erkundigte sich: »Wurde sie schon gefunden?«
»Nein«, antwortete Will und fragte dann Pete: »Könnten Sie die Unterschiede zwischen diesen beiden Morden erläutern?«
»Natürlich«, erwiderte Pete. »Im Gegensatz zur Prostituierten wurde bei diesem Mädchen die Zunge herausgeschnitten, nicht abgebissen. Höchstwahrscheinlich mit einem gezackten Messer. Einem weniger Aufmerksamen wäre es vielleicht nicht aufgefallen, aber ich bin mir sicher, dass es so ist.«
Michael erkundigte sich: »Wie können Sie das feststellen?«
»Die Trennlinie verläuft nicht sauber, wie es bei Ihrem Beißer der Fall ist.« Der Arzt klapperte zur Illustration mit den Zähnen, und das Geräusch hallte durch den gefliesten Raum. »Darüber hinaus würde man bei einem Biss eine Sichelform erwarten, weil die Zähne nicht in gerader Linie im Mund stehen, sondern in einem Bogen. Wenn Sie es sich ansehen...« Er wollte eben den Mund des Mädchens öffnen, schien es sich dann aber anders zu überlegen. »Es gibt verschiedene Ansetzspuren, offensichtlich hatte der Täter Schwierigkeiten, die Zunge richtig zu fassen. Sie rutschte ihm aus den Fingern, und die Klinge verfing sich. Aber der Kerl war fest entschlossen. Beim dritten oder vierten Versuch schaffte er es.«
»War sie glitschig?«, fragte Will. »Von Blut? Speichel?«
»Blut dürfte nur wenig vorhanden gewesen sein, da sie zur Zeit der Verstümmelung bereits tot war. Ich vermute, er hatte Schwierigkeiten beim Greifen, weil die Zunge so klein ist. Außerdem hätte ein erwachsener Mann wohl Probleme, mit der Hand in ihren Mund zu kommen. Er ist ebenfalls sehr klein.«
Michael nickte, aber er schien Pete gar nicht zuzuhören. Sein Blick ruhte noch immer auf dem Mädchen; eine einzelne Träne lief ihm die Wange hinab. Nur einen Augenblick lang drehte er sich um, tat so, als würde er sich die Nase reiben, und wischte sie sich dabei mit dem Handrücken weg.
»Und natürlich ist interessant, dass die Zunge fehlt«, bemerkte Pete. »In den anderen Fällen befand sich die Zunge immer beim Opfer. Vielleicht hat unser Täter sich weiterentwickelt und sammelt jetzt Souvenirs?«
»Bei Serienmördern kommt das häufig vor«, erklärte Will, um Michael in die Gegenwart zurückzuholen. Vielleicht war der Mann einfach zu früh wieder auf seinem Posten. Angie hatte gesagt, dass er sehr kinderlieb sei. Vielleicht nahm er es wie Will einfach zu schwer, weil das Mädchen so jung war. Wahrscheinlich hatte Michael miterlebt, wie sie heranwuchs. So etwas wäre für jeden schwierig, auch ohne dass man die Kleine aufgeschnitten in der Leichenhalle liegen sah.
Michael räusperte sich noch zweimal und fragte
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