Will Trent 02 - Entsetzen
geflogen, weil sie auf dem Campus geraucht hatte. Bedeutete das, dass sie auch harte Drogen genommen hatte? Brachte ihr Drogendealer diesen Wahnsinn in ihrer aller Leben? Gab es da draußen irgendeinen Verbrecher, der Emma jetzt im Augenblick mit Drogen vollstopfte?
Um alles noch schlimmer zu machen, war Pauls Aggressivität unkontrollierbarer denn je. Abigail hatte ihn nach Details über die gestrige Schlägerei mit Will Trent gefragt, und er war so wütend auf sie geworden, dass sie den Raum verlassen hatte, anstatt sich seine Tirade anzuhören. Sie wollte sagen, dass sie ihn einfach nicht mehr kenne, aber das stimmte nicht. Das war genau der Paul, von dem sie immer gewusst hatte, dass er existierte. Diese Tragödie brachte seine Anlagen einfach nur verstärkt ans Tageslicht, und, offen gesagt, ihr privilegiertes Leben machte es einfach, Charakterfehler zu übersehen.
Sie waren es gewohnt, auf weit über siebenhundert Quadratmetern zu leben - mehr als genug Platz, um einander aus dem Weg zu gehen. Die Wohnung über der Garage mit ihrer gemütlichen Küche-Wohnzimmer-Kombination und nur einem Schlafzimmer war jetzt zu klein für sie. Sie stiegen einander auf die Füße, waren sich ständig im Weg. Abigail hatte den Eindruck, in diesen beschränkten Räumlichkeiten ebenso sehr eine Gefangene zu sein, wie Emma es war - wo das auch sein mochte.
Was sie wirklich tun wollte, war, ihn zu packen, ihn zu schlagen, ihn dafür zu bestrafen, weil er zugelassen hatte, dass Emma so etwas Schreckliches passierte. Paul hatte ihre stillschweigende Vereinbarung gebrochen, und sie war wütend auf ihn wegen dieser Übertretung. Er konnte seine Frauen vögeln und seine Tochter verwöhnen, bis sie es fast nicht mehr aushielt, aber letztendlich wollte Abigail nur eines von ihm. Dass er für die Sicherheit seiner Familie sorgte.
Und er hatte kläglich versagt. Alles war so furchtbar schiefgegangen.
Beatrice streichelte Abigail die Hand. »Du musst stark sein.«
»Ich habe einen Menschen getötet, Mutter.« Sie wusste, sie sollte vor Hamish nicht darüber reden, aber die Wörter flossen einfach aus ihr heraus. »Ich habe ihn mit meinen bloßen Händen erwürgt. Adam Humphrey war der Einzige, der Emma zu helfen versucht hatte, der Einzige, der uns hätte sagen können, was wirklich passiert ist, und ich habe ihn getötet.«
»Psch«, machte sie und strich über Abigails Hand. »Das kannst du jetzt nicht mehr ändern.«
»Aber ich kann Reue empfinden«, sagte sie. »Ich kann Verärgerung empfinden und Hilflosigkeit und Wut.« Sie schnappte nach Luft, ihre Gefühle überwältigten sie. Wie konnte man von ihr erwarten, dass sie heute vor die Kameras trat, dass sie sich der Welt zeigte? Man wollte sie nicht einmal sprechen lassen, was Paul wütend machte, Abigail aber insgeheim erleichterte.
Der Gedanke, den Mund zu öffnen und einen unsichtbaren Fremden anzuflehen, ihr ihre Tochter zurückzugeben, machte Abigail körperlich krank. Was, wenn sie das Falsche sagte? Was, wenn sie eine Frage auf die falsche Art beantwortete? Was, wenn sie einen kalten Eindruck vermittelte? Was, wenn sie zu barsch oder zu leidend oder zu melodramatisch klang?
Die Ironie war, dass es andere Frauen - andere Mütter -waren, über die sie sich den Kopf zerbrach. Diejenigen, die so leichthin ein Urteil über ihr eigenes Geschlecht fällten, als würden die gemeinsamen biologischen Merkmale sie zu Experten für dieses Thema machen. Abigail kannte diese Geisteshaltung, weil sie ebenso gedacht hatte, als sie noch den Luxus eines sicheren und perfekten Lebens genoss. Sie hatte die Geschichten über Madeleine McCann und Jon-Benet Ramsey gelesen, hatte jedes Detail dieser Fälle verfolgt und über diese Mütter so hart geurteilt wie alle anderen auch. Sie hatte Susan Smith im Fernsehen bei ihrer geheuchelten Bitte um Rückgabe der Kinder gesehen und hatte über Diane Downs verabscheuungswürdige Gewalt gegen ihre eigenen Kinder gelesen. Es war so einfach gewesen, ein Urteil über diese Frauen - diese Mütter - zu fällen, sich auf der Couch zurückzulehnen, am Kaffee zu nippen und sie als zu kalt oder zu hart oder zu schuldig abzuurteilen, nur weil sie ihre Gesichter fünf Sekunden lang in den Nachrichten oder im Pop-Magazin gesehen hatte. Und jetzt, in der ultimativsten karmischen Vergeltung aller Zeiten, würde Abigail diejenige vor den Kameras sein. Ihre Freunde und Nachbarn, und schlimmer noch, völlig Fremde, würden auf ihren Couchen sitzen und vorschnelle
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