Will Trent 02 - Entsetzen
essen, bevor er zurückkommt. Du willst deinen Daddy doch nicht enttäuschen, oder?«
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E igentlich hatte Will einen guten Schlaf. Er nahm an, es kam davon, dass er in den ersten sechzehn Jahren seines Lebens einen Raum mit einer Handvoll Fremder geteilt hatte. Man lernte zu schlafen trotz des Hustens und des Weinens, des Furzens und der einhändigen Einschlafübungen, die jeder Junge ab einem sehr frühen Alter praktizierte.
Gestern Nacht war das Haus still gewesen bis auf Bettys leises Schnarchen und Angies gelegentliches Stöhnen. An Schlaf war jedoch nicht zu denken gewesen. Wills Hirn wollte einfach nicht abschalten. Er lag im Bett und starrte die Decke an, und seine Gedanken sausten hin und her zwischen den wenigen Indizien, die sie in diesem Fall hatten, bis die Sonne aufging und er sich zum Aufstehen zwang. Er hatte seine übliche Routine abgespult - mit Betty Gassi gehen, dann allein zum Joggen. Auch beim Laufen, als die frühmorgendliche Hitze jeden Tropfen Feuchtigkeit aus seinem Körper presste, konnte er an nichts anderes denken als an Emma Campano. Wurde sie irgendwo festgehalten, wo es eine Klimaanlage gab, oder musste sie Temperaturen um die vierzig Grad erdulden? Wie lange konnte sie ohne Hilfe überleben? Was tat ihr Entführer ihr an?
Es war zwar völlig unbedeutend, aber als Will auf der Laderampe hinter der City Hall East stand und auf Emmas Eltern wartete, ging ihm der Gedanke nicht mehr aus dem Kopf, dass er zum ersten Mal in seinem Leben nicht mehr neidisch war auf Paul Campano.
Will fragte sich, wie Amanda es dem Mann beigebracht hatte, dass er während der Pressekonferenz seinen Mund nicht aufmachen durfte. Paul hatte diese Anordnung mit Sicherheit nicht einfach so hingenommen. Er war es gewohnt, Leute herumzukommandieren und Situationen mit seinem Zorn zu kontrollieren. Auch wenn er nichts sagte, schaffte Paul es, sein Missfallen auszudrücken. Will wusste, dass der Kidnapper die Eltern genau beobachten und nach dem kleinsten Hinweis suchen würde, ob er das Mädchen einfach umbringen und sich aus dem Staub machen sollte. Paul unter Kontrolle zu halten würde ziemlich schwierig werden. Er war froh, dass dies nicht seine Aufgabe war.
Amanda war offensichtlich nicht sehr erfreut darüber gewesen, dass die Medien sie praktisch gezwungen hatten, eine Pressekonferenz abzuhalten. Deshalb hatte sie sie für eine Zeit angesetzt, zu der sich die meisten Reporter noch von den Strapazen der letzten Nacht erholten. Um halb sieben Uhr morgens waren sie noch nicht so wild wie um acht oder um neun Uhr, und wie üblich nutzte Amanda diesen Vorteil sehr gerne. In einem Anfall von Mitleid hatte Will Faith nicht zu diesem frühen Termin verdonnert. Er hielt es für besser, sie ausschlafen zu lassen. Er kannte Faith nicht sehr gut, aber er vermutete, dass sie wegen dieses Falls eine ebenso schlaflose Nacht verbracht hatte wie er. Vielleicht würden die beiden zusätzlichen Stunden ihr an diesem Morgen wieder zu einem klaren Kopf verhelfen. Wenigstens wüsste dann einer von beiden, was er tat.
Ein schwarzer BMW 750 hielt vor der Laderampe. Natürlich hatte Paul sich geweigert, in einen Streifenwagen zu steigen. Amanda hatte den Campanos gesagt, sie sollten sich mit Will am Hintereingang an der North Avenue treffen, weil es am Hauptportal der City Hall East bereits von Fotografen wimmelte. Die Rückseite war reserviert für Polizeifahrzeuge und diverse Servicefahrzeuge, die Geier konnten also dort nicht reinfahren, ohne eine Verhaftung zu riskieren.
Paul stieg zuerst aus und strich sich mit der Hand die langen Haarsträhnen glatt, die die Glatze oben auf seinem Kopf bedeckten. Er trug einen dunklen Anzug mit einem weißen Hemd und einer blauen Krawatte - nichts Auffälliges. Amanda hatte ihnen bestimmt eingeschärft, nicht zu wohlhabend oder zu gut angezogen aufzutreten, nicht aus Angst vor dem Kidnapper, sondern weil die Presse jeden Zentimeter der Eltern genau in Augenschein nehmen würde, um eine Schwachstelle zu entdecken, die sich für den Aufmacher ausschlachten ließ.
Abigail öffnete ihre Tür, bevor Paul es für sie tun konnte. Ihre langen, wohlgeformten Beine waren nackt, die Schuhe hatten nur einen bescheidenen Absatz. Sie trug einen dunkelblauen Rock und eine weiße Bluse der Art, wie Faith Mitchell sie zu bevorzugen schien. Das Gesamtbild war zurückhaltend, reserviert. Bis auf das Neunzigtausend-Dollar-Auto hätte sie eine x-beliebige, gutbürgerliche Mutter sein
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