Will Trent 02 - Entsetzen
Urteile über Abigails Verhalten zum Besten geben.
Beatrice sagte: »Es ist schon okay.«
»Nichts ist okay.« Abigail entriss ihrer Mutter die Hand und stand auf. »Ich habe genug davon, dass alle herumlaufen wie auf rohen Eiern. Jemand muss. Adam betrauern. Jemand muss endlich mal laut aussprechen, dass ich totale Scheiße gebaut habe!«
Beatrice schwieg, und Abigail drehte sich um und schaute ihre Mutter an. Das harte Licht tat ihrem Gesicht keinen Gefallen, es vertiefte jede Furche, jedes Fältchen, die das Make-up nicht verbergen konnte. Ihre Mutter hatte sich unters Messer gelegt - hatte die Stirn liften und die Kinnpartie straffen lassen -, aber die Wirkung war nicht drastisch, es war eher ein Abmildern der Verwüstungen der Zeit, sodass sie jetzt jung aussah für ihr Alter, aber nicht wie eine Plastikpuppe mit Silikonlippen.
Sie redete leise, aber mit Autorität. »Du hast wirklich Scheiße gebaut, Abby. Du hast die Situation falsch interpretiert und du hast diesen Jungen getötet.« Ihre Mutter benutzte eine solche Sprache nicht gern, und das sah man ihrem Gesicht auch an. Dennoch fuhr sie fort: »Du hast geglaubt, er wollte dich angreifen, aber er wollte dich um Hilfe bitten.«
»Er war erst achtzehn Jahre alt.«
»Ich weiß.«
»Vielleicht hat Emma ihn geliebt. Er hatte ihr Foto in der Brieftasche. Vielleicht war er ihr Freund.« Sie stellte sich vor, was das bedeutete - Händchenhalten, ihr erster Kuss, unbeholfenes Fummeln und Tasten. Hatte ihre Tochter mit Adam Humphrey geschlafen? Kannte sie bereits die Freude, von einem Mann umarmt und liebkost zu werden? War diese erste Liebe die Erinnerung, die ihr bleiben würde, oder würde Emma sich nur daran erinnern, wie ihr Entführer sie verletzt, sie vergewaltigt hatte?
Gestern zur selben Zeit hatte Abigail ausschließlich über Emmas Tod nachdenken können. Jetzt merkte sie, dass sie sich überlegte, wie es sein würde, wenn Emma überlebte. Abigail war nicht dumm. Sie wusste, dass Geld nicht der einzige Grund war, warum ein erwachsener Mann ein siebzehnjähriges Mädchen aus ihrer Familie stahl. Wenn sie sie zurückbekämen - wenn Emma zurückgegeben würde -, wer würde dieses Mädchen dann sein? Wer würde diese fremde Tochter sein?
Und wie würde Paul damit umgehen? Wie konnte er seinen kleinen Engel je wieder ansehen, ohne daran zu denken, was man ihr angetan hatte, wie sie benutzt worden war? Nach dem gestrigen Kampf hatte Paul Abigail nicht einmal anschauen können. Wie sollte er da seiner Tochter je wieder in die Augen sehen können?
Sie sprach jetzt aus, was ihr die Kehle zugeschnürt hatte, seit sie erkannt hatten, dass Emma nicht tot, sondern verschleppt worden war. »Wer sie auch hat - er wird ihr etwas antun. Wahrscheinlich tut er ihr jetzt im Augenblick etwas an.«
Beatrice nickte knapp. »Wahrscheinlich.«
»Paul wird nicht...«
»Paul wird damit zurechtkommen, so wie du.«
Sie bezweifelte es. Paul hatte alles gern perfekt, und wenn etwas nicht perfekt sein konnte, dann wollte er zumindest den Anschein von Perfektion. Jeder würde wissen, was mit Emma passiert war. Jeder würde jedes Detail ihres beschädigten Lebens kennen. Und wer konnte ihnen ihre Blutgier, ihre Neugier verübeln? Auch jetzt noch konnte der kleine Teil von Abigails Hirn, der sich an Details aus den Filmen der Woche und den Titelgeschichten der Sensationsmagazine erinnerte, die Namen der entführten und zurückgegebenen Kinder erinnern: Elizabeth Smart, Shawn Hornbeck, Steven Stayner ... Was war aus ihnen geworden? Was hatten die Familien getan, um daran nicht kaputtzugehen?
Abigail fragte: »Wer wird sie sein, Mama? Wenn wir sie zurückbekommen, wer wird Emma dann sein?«
Beatrices Hand war sehr ruhig, als sie Abigails Kinn hob. »Sie wird deine Tochter sein, und du wirst ihre Mutter sein, und du wirst alles für sie tun, denn genau das tun Mütter. Hast du mich verstanden?«
Abigail hatte ihre Mutter noch nie weinen sehen, und das sollte sich jetzt auch nicht ändern. Was sie in Beatrices Augen sah, war ihre Kraft, ihre Ruhe im Sturm. Zum ersten Mal, seit dieser Albtraum begonnen hatte, brachte die Gewissheit in ihrer Stimme, die Bestimmtheit ihrer Worte Abigail so etwas wie Frieden, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick.
Sie sagte: »Ja, Mama.«
»Braves Mädchen«, erwiderte Beatrice und strich ihr über die Wange, bevor sie in die Küche ging. Sie stöberte in den Schränken und sagte: »Ich habe deinem Vater gesagt, du würdest eine Suppe
Weitere Kostenlose Bücher