Will Trent 02 - Entsetzen
schiefgegangen sein.
Faith hatte den Umschlag aufgerissen, in dem eigentlich ihre Gasrechnung steckte, und ihn benutzt, um die Jahrbuchfotos von Kayla Alexander und Evan Bernard aufzubewahren. Jetzt öffnete sie ihn wieder und schaute sich Evan Bernards Schulfoto an. Er war ein gut aussehender Mann. Er wäre durchaus auch bei Frauen seines Alters gut angekommen. Ohne das Wissen, das sie jetzt hatte, hätte Faith sich ohne Zögern mit ihm verabredet. Ein gebildeter, sprachgewandter Lehrer, der Kinder mit Lernproblemen unterrichtete? Wahrscheinlich standen die Frauen vor seiner Tür Schlange. Und doch hatte er sich junge Mädchen ausgesucht, die es nicht besser wussten.
Allein schon ihr Aufenthalt in der Wohnung des Lehrers hatte Faith dazu gebracht, dass sie sich schmutzig fühlte. Seine kaum legalen Pornos und das Gemälde der jungen Frau in seinem Schlafzimmer deuteten auf seine perverse Obsession hin. Sie war ebenso wütend wie Will darüber, dass er morgen problemlos auf Kaution aus dem Gefängnis kommen würde. Sie brauchten mehr Zeit, um eine Anklage gegen ihn zusammenzustellen. Aber das Einzige, worauf sie im Augenblick aufbauen konnten, war eine fehlende Festplatte und ein Fingerabdruck, der nicht zu ihrem einzigen Verdächtigen passte. Und dennoch gab es eine Frage, die Faith einfach nicht mehr aus dem Kopf ging: War Bernard der Schlüssel zu dieser Geschichte, oder war er nur eine widerliche Ablenkung vom wahren Mörder?
Faith konnte gut verstehen, was ein fünfundvierzigjähriger Mann von einem siebzehnjährigen Mädchen wollte, aber sie konnte sich nicht vorstellen, was Kayla Alexander zu Evan Bernard hingezogen hatte. Seine Haare wurden schon grau. Er hatte tiefe Falten um Mund und Augen. Er trug Sakkos mit Cordflicken an den Ellbogen und braune Schuhe zur schwarzen Hose. Schlimmer noch, er hatte in dieser Beziehung die Macht, und nicht nur, weil er Lehrer war.
Einfach aufgrund der Tatsache, dass Bernard schon länger lebte als Kayla, war er schlauer als sie. In den achtundzwanzig Jahren, die sie trennten, hatte er mehr Lebenserfahrung gesammelt, mehr Beziehungen gehabt. Es musste sehr einfach für ihn gewesen sein, das aufsässige Mädchen zu verführen. Bernard war vermutlich der einzige Erwachsene in ihrem Leben, der Kayla in ihrem Verhalten ermutigte. Er hatte ihr das Gefühl gegeben, jemand Besonderes zu sein, als wäre er der einzige Mensch, der sie verstand. Alles, was er dafür als Gegenleistung wollte, war ihr Leben.
Mit vierzehn Jahren war Faith von einem Jungen, der drei Jahre älter war als sie, ähnlich ausgetrickst worden. Er hatte sie auf viele Arten kompromittiert, indem er ihr drohte, dass er, falls sie mit ihm Schluss machen sollte, ihren Eltern all die Dinge erzählen würde, die sie mit ihm gemacht hatte. Faith hatte sich immer tiefer hineingeritten, indem sie die Schule schwänzte, Hausarrest missachtete und permanent nach seiner Pfeife tanzte. Und dann war sie schwanger geworden, und er hatte sie weggeworfen wie Müll.
Die Besprechung war offensichtlich zu Ende, denn die Tür zum Konferenzsaal ging auf. Männer strömten heraus und blinzelten ins Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel. Victor schien es zu überraschen, Faith hier zu sehen. Es gab einen Augenblick der Verlegenheit, als sie ihm die Hand entgegenstreckte und er sich zu ihr beugte, um sie auf die Wange zu küssen. Sie lachte nervös, weil sie das Gefühl hatte, in die Rolle, die sie jetzt spielen sollte, nicht so recht hineinzupassen.
»Ich bin aus beruflichen Gründen hier«, erklärte sie.
Er streckte die Hand aus als Aufforderung, ein Stück mit ihm zu gehen. »Ich habe zuvor die Nachricht erhalten, dass du angerufen hast. Ich hatte gehofft, dass es wegen eines Rendezvous wäre, aber ich habe trotzdem mit Chuck Wilson gesprochen.«
Wilson war der Wissenschaftler, der das graue Pulver analysierte, das Charlie Reed gefunden hatte. »Hat er schon irgendwas?«
»Tut mir leid, aber ich habe bis jetzt noch nichts von ihm gehört.« Er lächelte. »Ich habe ihm das Versprechen abgenommen, dass er sich noch heute darum kümmert.« Er lächelte erneut. »Wir könnten zum Mittagessen gehen und danach bei ihm vorbeischauen.«
»Schneller wäre besser. Kann man ihn anrufen?«
»Natürlich.«
Sie gingen eine kurze Treppe hinunter und sie sagte zu ihm: »Ich muss auch mit einem eurer Studenten reden.«
»Mit welchem?«
Kayla spielte mit dem Umschlag in ihrer Hand, den Bildern von Kayla und Bernard. »Tommy
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