Will Trent 02 - Entsetzen
nett zu ihm war, wenn ihre Freundinnen nicht hinschauten. Er schien fast dankbar zu sein, dass er ihr gegenübersaß. Hätte sie nicht mit eigenen Augen gesehen, wie er vor weniger als einer Stunde Will eine Waffe ins Gesicht gehalten hatte, hätte Faith gelacht bei dem Gedanken, dass dieser introvertierte, linkische Mann zu so etwas fähig war.
Erst zweimal in ihrer Karriere hatte Faith die Waffe gezogen. Das war nichts, was ein Polizeibeamter leichtfertig tat. Man zog die Waffe nur, wenn man bereit war, sie auch zu benutzen, und es gab nur eine beschränkte Anzahl von Situationen, die ein solches Verhalten rechtfertigten. Als sie dort im Wald stand und auf Warren Grier hinuntersah, der eben abdrückte, war sie mehr als bereit gewesen, selbst den Zeigefinger zu krümmen.
Aber es wäre zu spät gewesen. Faith hatte sich an die vorgeschriebene Vorgehensweise gehalten. Sie hätte ohne Gewissensbisse jedem Untersuchungsausschuss erklären können, dass sie ihren Job so ausgeführt hatte, wie sie es gelernt hatte: Zuerst gibt man einen Warnschuss ab, dann schießt man gezielt. Warren hatte bereits zweimal abgedrückt, als sie dort ankam. Das Einzige, was ihn davon abhielt, ein drittes Mal abzudrücken, den Schlagbolzen auf den Patronenboden und die Kugel in Wills Hirn zu jagen, war ... was gewesen?
Sie spürte Hitze in sich aufsteigen, als sie an den knappen Ausgang dachte. Faith musste sich in Erinnerung rufen, dass Warren Griers irrationale Seite etwas war, das sie immer berücksichtigen mussten. Evan Bernard war der Ruhige und Konzentrierte. Warren war der Impulsive, derjenige, der zu einem Mord aus Wut fähig war. Er hatte Emma Campano verschleppt. Er hatte Adam Humphrey erstochen. Er hatte Kayla Alexander erschlagen.
Faith erkannte, dass sie seit zwölf Stunden so gut wie überzeugt von Emmas Tod war. Doch nun gestattete auch sie sich den Gedanken, dass Emma möglicherweise noch am Leben war, und sie wusste, der einzige Weg, sie zu finden, lief über den Mörder, der ihr gegenüber am Tisch saß.
Sie hoffte inständig, dass Will der Herausforderung gewachsen war.
Warren sagte: »Die Bauarbeiter sagen, dass die Wasserleitung bald repariert sein dürfte. Es wäre schön, wenn die Straße endlich wieder sauber und frei wäre.«
Sie drehte sich mit ihrem Stuhl leicht zur Seite, um ihn nicht ansehen zu müssen. Am Stirnende des Tisches stand ein Stativ mit einer Kamera, die jede ihrer Bewegungen aufnahm. Sie dachte an Evan Bernards Kleinmädchenzimmer, und fragte sich, ob Warren Grier im Zimmer nebenan vor dem Monitor gesessen und ihm zugeschaut hatte. Sie hatten in der Wohnung des Mannes keine Festplatte gefunden. Sie hatten keinen Laptop oder sonst irgendetwas auch nur entfernt Belastendes gefunden.
»Heute Nachmittag haben sie ziemlich viel gearbeitet«, sagte er. »Es war sehr laut.«
Sie merkte, wie ihr Mitleid schwand und Abscheu übernahm.
Nach Lionel Pettys Aussage hatte Warren ziemlich viel Zeit bei geschlossener Tür in seinem Büro verbracht. Hatte er auf seinem Überwachungsmonitor Emma und Kayla auf dem Parkdeck beobachtet? Hatte er so Emma zum ersten Mal gesehen? Wie passte Kayla in diese ganze Geschichte? Wo kam Evan Bernard dazu?
Faith hatte Warren in die Untersuchungshaft gebracht, hatte zugesehen, wie man ihn fotografierte und ihm die Fingerabdrücke abnahm. Will hatte ihr von Warrens schmuddeligem Apartment an der Ashby Street berichtet, die Art von Bude, in die man einzog, wenn man frisch aus dem Gefängnis kam. Warrens Vermieterin war schockiert, als sie hörte, dass ihr stiller Mieter, der seit zehn Jahren bei ihr wohnte, verhaftet worden war. Er gehe nie aus, außer zur Arbeit, hatte sie Will erzählt. Er habe nie Freunde zu Besuch gehabt.
Wo also hielt er Emma Campano gefangen?
Als könnte er ihre Gedanken lesen, sagte Warren: »Ihr werdet sie nicht finden.«
Faith reagierte nicht, versuchte erst gar nicht, Warrens Worte als einen Hoffnungsschimmer zu interpretieren. Warren hatte schon mehrmals versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Anfangs war sie darauf eingegangen, doch sie hatte sehr schnell gemerkt, dass er nur mit ihr spielte. Er wollte über das Wetter reden, die Nachrichtenmeldungen über die Dürre - über alles Mögliche, nur um sie zu einer bedeutungslosen Unterhaltung zu verlocken. Faith hatte schon vor Jahren gelernt, dass man einem Verdächtigen nie das gab, was er wollte. Er sollte nicht glauben, er hätte die Kontrolle.
Es klopfte an der Tür, und Will kam ins
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