Wille zur Macht
Wirklichkeit nicht wusste, was das genau sein würde. Und vor allem, wie es ihm dabei gehen würde.
„Ich will nichts auslassen, Frau Kayser. Aber was mache ich, wenn ich es doch nicht so gut aushalte und mich übergeben muss?“
Mechthild konnte ihn gut verstehen. Das waren genau die Gedanken, die sie auch am Anfang bei der Mordkommission gequält hatten. Sie wollte ihn beruhigen.
„Wenn Sie kotzen müssen, kotzen Sie. Das ist schon vielen passiert. Eine ganz menschliche Reaktion. Achten Sie nur darauf, dass Sie herumstehende Behälter meiden. Einfach auf den Boden, ein Zettelchen drauf mit Name und Uhrzeit. Das ist alles. Wenn Sie deswegen jemand hänselt, machen Sie sich nichts draus. Den meisten ist schon mal schlecht geworden.“
Zu Mechthilds Beruhigung lenkte Strehlow den Dienstwagen mit mäßigem Tempo geschickt durch die Innenstadt und über die Wilhelm-Kaisen-Brücke in die Neustadt. Von der Brücke aus konnte sie erkennen, dass an der Schlachte ein weiteres Restaurantschiff auf der Weser angekommen war. Es wirkte wie ein altes Seeräuberschiff.
Vorsichtig und immer wieder nach allen Seiten blickend, bewegte Harald Strehlow den Mercedes über die Kreuzung am Buntentorsteinweg, und nur wenig später bog er nach rechts in Richtung Pappelstraße ab. Vor der Tür stand bereits ein Streifenwagen des Neustädter Reviers.
Nachdem sie einen geeigneten Parkplatz gefunden hatten, holte Mechthild Kayser das Blaulicht vom Dach, öffnete den gepolsterten Deckel des Faches zwischen den beiden Vordersitzen und entnahm diesem zwei Paar Gummihandschuhe.
„Wir brauchen zwar nicht das volle Programm zu machen wie der ED, aber wollen doch das Legen von Falschspuren vermeiden.“ Dann befahl sie Strehlow, aus dem Kofferraum Überzieher für ihre Schuhe und ein Diktiergerät zu holen.
Harald Strehlow war sehr aufgeregt, versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen. Mit dem Wissen, dass alle eingetroffenen Schaulustigen glaubten, er gehöre zur Mordkommission, stieg er stolz mit Mechthild die Treppen bis zur Wohnung des Opfers hinauf. Oben erwarteten sie die beiden Kollegen der Schutzpolizei.
Mechthild wies sich als Leiterin der Mordkommission aus, da sie die beiden uniformierten Beamten nicht kannte. Sie kam sofort zur Sache. „Sie waren beide drin, richtig?“ Die Beamten nickten.
„Schildern Sie mir kurz, was Sie gemacht haben, und ob noch mehr Personen die Wohnung betreten haben.“
Der Streifenführer erklärte Mechthild minutiös jeden Schritt, den sie unternommen hatten, bis sie die Leiche fanden. Mechthild Kayser nahm seine ganze Aussage auf ihr Diktiergerät auf. Außer ihnen war lediglich der herbeigerufene Notarzt in der Wohnung gewesen. Aber der war schon wieder verschwunden.
Der andere Beamte zog aus seiner Jacke einen Totenschein heraus und übergab ihn der Chefin der Mordkommission.
Mechthild bedankte sich für die genauen Schilderungen. Das war nicht immer so. Manch ein Polizist war durch den Anblick einer entstellten Leiche so verwirrt, dass er im Nachhinein nicht mehr genau sagen konnte, was er alles getan, angefasst und verändert hatte. Aber diese beiden waren vorbildlich.
„Ich bitte Sie, noch so lange hier zu bleiben, bis der Erkennungsdienst eintrifft“, bat Mechthild freundlich. Aber eigentlich war es eine Anweisung. Wieder nickten beide.
„Dann mal los!“ Mechthild und Harald Strehlow zogen sich die dünnen Schutzhandschuhe über die Hände und schlüpften in die Überzieher für die Schuhe. Mechthild ging voraus. Langsam bewegte sie sich durch den Flur und sprach dabei ihre Beobachtungen in ihr Diktiergerät.
Dann erreichte sie das Wohnzimmer. Der Anblick, der sich ihr nun bot, war bei weitem nicht leicht zu ertragen. Das Licht im Wohnzimmer war vom Notarzt eingeschaltet worden, und hell leuchtete der malträtierte Körper des Toten über dem abgenutzten grünen Teppichboden. Neben dunkelbraunem getrocknetem Blut war auf dem Rücken des Toten hellrot leuchtendes Fleisch aus tiefen Schnittwunden zu erkennen. Mechthild drehte sich um und wollte Harald Strehlow zum Warten auffordern. Aber der stand schon die ganze Zeit hinter ihr. Schweigend, angespannt, aber gefasst. Mechthild ließ ihm noch ein bisschen Zeit. Sie hatten es ja nicht eilig.
„Wollen Sie hier bleiben?“ fragte sie nach einer Weile. „Es ist nicht erforderlich.“
Harald Strehlow antwortete nicht, sondern machte einen großen Schritt nach vorn. Jetzt musste Mechthild ihm folgen.
Sie besahen sich den Toten.
Weitere Kostenlose Bücher