Wille zur Macht
Scheinwerferleiste aus Messing an der Decke warf gleißendes Licht auf den kleinen Flur.
Kein Laut war zu hören, als die beiden Schutzpolizisten an den Türrahmen gepresst in die Wohnung lugten. Als sie langsam ihre Pistolen aus dem Halfter zogen, unterbrach als Erstes das Geräusch des metallischen Klackens vom Durchladen ihrer Waffen die Stille. Polizeihauptmeister Kutscher hatte sich schutzsuchend in die hinterste Ecke des Treppenhauses verzogen. Als Kontaktbeamter im Tagesdienst hatte er schon lange keine angespannte Situation dieser Art mehr erlebt. Er merkte, wie er unter seiner dicken Jacke zu schwitzen begann. In seinem Kopf ratterte es. Er versuchte längst verblasste Informationen über Eigensicherung und den sogenannten „Ersten Angriff am Tatort“ wieder hervorzukramen. Automatisch fühlte er sich in die Zeit seiner Ausbildung bei der Bereitschaftspolizei zurückversetzt, wo sie Eigensicherung bis zum Erbrechen geübt hatten. Aber das war über dreißig Jahre her. Fest umklammerte er sein Handfunksprechgerät, als wenn es ihm Halt geben könnte. Seine Hand zitterte.
„Ich gehe da vorne bis zur ersten Tür“, flüsterte der Beamte an der linken Seite des Türrahmens. Sein Kollege nickte stumm.
Einer der beiden schritt langsam den Flur entlang, die Pistole senkrecht erhoben. Als er die anvisierte Tür erreichte, konnte er in ein spartanisch eingerichtetes und ziemlich unaufgeräumtes, kleines Wohnzimmer blicken. Das Bild, das sich ihm bot, ließ seinen Atem stocken, und ein Völlegefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Links an der Wand des Zimmers befanden sich Holzregale, vollgestopft mit Büchern und Schriften. Darin integriert eine Schreibtischplatte, auf der ein Computer stand. Die Vorhänge des einzigen, zur Straße gehenden Fensters waren zugezogen. Das Gegenlicht zeichnete dessen Rahmen auf dem Stoff ab. Auf der rechten Seite stand ein zweisitziges Sofa, das er aus einem Ikeakatalog kannte. Davor ein runder Couchtisch aus Kiefernholz. Von der Sonne gedunkelt.
Aber all das löste seine Erregung nicht aus. Das war etwas anderes. Neben dem Tisch lag ein Stuhl auf dem Boden, mit der Rückenlehne nach oben. Auf der Lehne lag ein Mensch, ein Mann. Sein Kopf hing merkwürdig verdreht darüber. Der Beamte sah ihn nur von schräg hinten. Der Mann war lediglich mit einer Unterhose bekleidet, aus der Exkremente ausgetreten und an seinen Beinen heruntergelaufen waren, wo sie jetzt antrockneten. Seine nackten Fußsohlen waren fast schwarz; das Fleisch auf seinem Rücken an mehreren Stellen tief eingeschnitten. Überall klebte verkrustetes Blut. Ein Lebenszeichen war nicht zu entdecken. Er schien tot zu sein.
„Kutscher!“ schrie er. „Notarztwagen und Kriminaldauerdienst. Aber schnell!“
Felix Kutscher konnte nur mit großer Überwindung seinen Klammergriff am Funkgerät lösen. Er war in seiner Aufregung erstarrt. Er konnte nach jahrzehntelanger Polizeiarbeit einfach keinen Stress mehr vertragen. Er drückte die Ruftaste des Gerätes und informierte seine Wache. Dann ging er ein paar Schritte zur Seite und ließ sich auf den Stufen der nach oben führenden Treppe nieder.
Frau Ratzenow hatte das ganze Geschehen vom oberen Treppenabsatz aus weiter verfolgt.
„Sehen Sie! Ich habe ja gesagt, dass da etwas nicht stimmt. Aber Sie wollten mir ja nicht glauben“, warf sie Felix Kutscher vor, stellvertretend für alle Polizisten, mit denen sie vorher gesprochen hatte. Felix Kutscher nahm die Vorwürfe gar nicht richtig wahr. In seinen Ohren rauschte es.
Der Beamte in der Wohnung winkte seinen Kollegen heran. „Sieht schlecht aus. Ist ziemlich shocking!“
Sein hinzugekommener Streifenkollege spähte um die Ecke ins Wohnzimmer, konnte aber das sich ihm zeigende Bild nicht so gut verkraften und wollte lieber alles andere machen, als sich diesem Anblick länger als nötig auszusetzen.
„Wir müssen die anderen Räume checken“, schlug er vor und machte sich zum Ende des Flures auf. Er öffnete die Tür, warf vorsichtig einen Blick hinein, bevor er eintrat. Es handelte sich um das Schlafzimmer. Alles war durcheinandergeworfen worden. Die Matratze lag quer über dem dünnen Holzrahmen des Bettes. Kleidungsstücke waren im ganzen Zimmer verstreut. Aber niemand befand sich hier. Auch die kleine Küche und das Badezimmer mit seiner unsauberen Dusche waren menschenleer.
„Okay, wir müssen hier erst mal raus!“ befahl der Streifenführer. Die beiden Beamten steckten ihre Waffen wieder ein und
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