Wille zur Macht
der Delmestraße kommend die rote Ampel ignoriert hatte, und mit sich zufrieden erreichte er das viergeschossige Haus, in dem Erna Ratzenow ihre Wohnung besaß. Er klingelte, und sogleich wurde der Summer zum Öffnen der Tür ausgelöst. Sie hatte also schon auf ihn gewartet. Frau Ratzenows Wohnung befand sich in der dritten Etage. Großes Unbehagen löste bei Polizeihauptmeister Kutscher der Umstand aus, dass es keinen Fahrstuhl gab und er seinen gewichtigen Körper drei Stockwerke hinaufschleppen musste. Er ergriff den dunkelbraunen, hölzernen Handlauf des Geländers und schlurfte die mit Linoleum beklebten Stufen empor. Auf jedem Treppenabsatz ging jeweils rechts und links eine Wohnung ab. Auf dem schmalen Flur der zweiten Etage machte er eine Pause, gestand sich aber nicht ein, dass er schon jetzt außer Atem war, sondern nahm diese Unterbrechung zum Anlass und inspizierte die Briefkästen der beiden Wohnungen. Eine dieser beiden musste es ja sein. Bei Ernsting war nichts Auffälliges zu bemerken. Aber bei Dunker steckte im Briefschlitz eine Zeitung, zwei weitere lagen vor der Tür auf dem Fußabtreter. Es handelte sich jeweils um Exemplare der „taz“.
Aha, ein Kommunist! dachte sich Kutscher und erklomm die letzte Treppe. Frau Ratzenow erwartete ihn in der geöffneten Tür ihrer Wohnung.
Nachdem sie ihn begrüßt und hereingebeten hatte, bot sie ihm frischen Kaffee und Kekse an, die sie aus einer blechernen Schmuckdose auf ihrer Anrichte nahm. So hatte sich Felix Kutscher das vorgestellt. Aber es wurde kein gemütlicher Plausch, wie er es sich gewünscht hatte, denn Erna Ratzenow wies plötzlich ziemlich energisch auf ihr Anliegen und die damit verbundene Sorge hin, dass mit dem jungen Herrn Dunker unter ihr etwas nicht in Ordnung sein könnte.
Frau Ratzenow ließ Polizeihauptmeister Kutscher gerade so viel Zeit, wie er benötigte, um seinen Kaffee auszutrinken, dann nahm sie rigoros die Kekse vom Tisch und forderte ihn auf, etwas zu unternehmen.
Die Alte ging Kutscher ganz schön auf den Geist. Am besten würde es sein, wenn er sich davonmachte, entschied er. Er gab vor, jetzt seine Ermittlungen aufzunehmen und verabschiedete sich schnell. Er stolzierte mit ernster und überaus dienstlicher Miene die Treppe wieder hinunter, gefolgt von den Blicken Erna Ratzenows, die ihn übers Geländer gelehnt beobachtete. An der Tür von Herrn Dunker klingelte er mehrfach, klopfte und rief. Aber aus der Wohnung kam keine Reaktion.
Polizeihauptmeister Kutscher beugte sich hinunter, fummelte die eingeklemmte Zeitung aus dem Briefschlitz und versuchte dann durch die Klappe in die Wohnung zu schauen. Als er ganz nah mit dem Gesicht vor der Öffnung war, schlug ihm ein süßlicher Geruch entgegen. Diesen Geruch kannte er. So rochen Leichen.
„Verdammt!“ rief er und richtete sich mühsam wieder auf. Nicht sein Verdacht ärgerte ihn. Vielmehr roch es hier nicht nur nach Leiche, sondern auch nach Arbeit für ihn. Warum hatte der Wachhabende denn keinen Streifenwagen hierher geschickt? fragte er sich. Jetzt konnte er den ganzen Papierkram erledigen. Misslaunig zog er sein Handfunkgerät hervor, schaltete es ein und rief seine Wache. Als er Antwort erhielt, schilderte er kurz seine Wahrnehmungen, forderte einen Streifenwagen zur Verstärkung und einen Schlosser zum Öffnen der Tür an. Während er wartete, machte er sich nervös erste Notizen in sein kleines Buch mit dem grünen Pappdeckel.
Wenige Minuten später stürmten zwei junge, sportliche Kollegen aus Kutschers Wache die Stufen zu ihm hoch. Einer kniete sich gleich vor die Tür und steckte seine Nase in den Briefschlitz. Als er sich wieder aufrichtete, verzog er sein Gesicht.
„Puh, das riecht ganz nach Leiche“, konstatierte er. „Wollen wir wirklich auf den Schlosser warten?“
„Quatsch“, antwortete sein Kollege. „Ist doch Gefahr im Verzug!“ Er trat zwei Schritte zurück, nahm einen kurzen Anlauf und rannte mit der Schulter voraus gegen den Türrahmen. Mit einem trockenen Knacken brach der Riegel des Türschlosses aus dem hölzernen Rahmen, und die Tür flog weit auf, bis sie scheppernd an einer an der Wand hängenden Garderobe zum Halten kam. Ein dunkelgrüner Parka mit Fellkapuze fiel herunter. Der Flur lag im Dunkeln, so als wenn alle Fenstervorhänge der angrenzenden Zimmer zugezogen wären.
„Okay, jetzt langsam!“ sagte einer der beiden Uniformierten und suchte mit der Hand neben dem Türrahmen nach einem Lichtschalter. Eine
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