Wille zur Macht
zu beschädigen.
„Tag, Kollege“, begrüßte er Heller gebückt über den Toten. „Wir sind noch nicht so weit, dass Sie loslegen können. Aber mit der Regalwand sind wir gleich fertig. Da können Sie dann schon mal ran. Am besten warten Sie noch, bis der Leichentransporter da war. Dann haben Sie mehr Platz. Und auch nicht mehr dieses schreckliche Geschehen vor Augen.“
Heller lehnte sich wortlos an die Wand neben der Wohnzimmertür. Er betrachtete den Toten. Er hatte wahrlich ein Martyrium über sich ergehen lassen müssen. Immer tiefer versank Heller in das Bild des Toten. Fast war es so, als wenn er selbst die unbeschreiblichen Schmerzen des Opfers empfinden würde. Die verbrannten Fußsohlen, die tiefen Schnitte im Rücken. Aber niemand konnte sich ausmalen, der es nicht selbst erlebt hatte, was solche Torturen bedeuteten. Das war wie Folter, dachte Heller. Ja, für ihn war dieser Mann gefoltert worden. Aber warum? Heller betrachtete die Einrichtung der Wohnung. Der Tote hatte eher in ärmlichen Verhältnissen gelebt. Um Geld oder Wertsachen ist es hier wahrscheinlich nicht gegangen. Aber sicher wollte sich Heller noch nicht sein. Manchmal hatten Menschen, denen man es nicht ansah, beträchtliche Summen auf ihrem Sparbuch.
Lärm schallte von draußen in die Wohnung. Der leere Zinkbehälter der Leichenträger schlug immer wieder gegen die Wände des engen Treppenhauses, und sein hohler Körper erwies sich als funktionierender Schallkörper.
„Müsst ihr so viel Lärm machen?“ schimpfte Mechthild.
„Ja, ja. Wenn einer drin liegt, wird’s wieder ruhiger.“ Leichenträger waren eine Gattung für sich. Sie wirkten auf andere immer sehr abgestumpft. Oft waren sie auch angetrunken. Die sie umgebende Schnapswolke war dann unüberriechbar. Dennoch schritt niemand gegen sie ein, wenn sie in diesem Zustand ihren Leichenwagen zur Pathologie fuhren. Wer jemals die Einzelteile einer Bahnleiche zusammengesammelt hatte, wusste, dass ein Schluck aus der Pulle hilfreich sein konnte.
Die beiden Träger hoben mit Unterstützung des ED die Leiche Christian Dunkers in die Zinkwanne und setzen akkurat den Deckel darauf.
Sie wuchteten den Behälter hoch und zwängten sich durch den Flur zurück ins Treppenhaus. Wortlos stampften sie mit ihrer Last vorbei an Mechthild und die Stufen durchs Haus hinunter.
Mechthilds Handy klingelte. Umständlich kramte sie es aus ihrer Manteltasche hervor und meldete sich. Professor Dr. von Sülzen, der Leiter der Bremer Gerichtsmedizin, war am anderen Ende zu hören.
„Wie mir Herr Behrmann freundlicherweise mitteilte, ist ein nettes Paket zu mir unterwegs?“
Mechthild mochte es eigentlich nicht, wenn jemand zu burschikos über das Opfer eines Tötungsdeliktes sprach. Auch wenn es manchem dadurch etwas leichter fiel, mit diesem Umstand umzugehen. Dafür hatte sie Verständnis. Ihren eigenen Leuten ließ sie dies allerdings nicht durchgehen. Sie hatten sich daran zu gewöhnen, in Fakten zu sprechen. Was trotzdem nicht immer gelang. Aber bei von Sülzen akzeptierte sie diese Art. Er war mit Sicherheit nicht verlegen darum, in ordnungsgemäßen Bezeichnungen einen Toten zu beschreiben. Als Pathologe kannte er alle Formen, wie ein Mensch ums Leben kommen konnte. Die natürlichen und die weniger natürlichen. Bei ihm wirkte diese Sprache wie der unzulängliche Versuch, poetisch zu wirken.
„Ja, Herr Professor. Der Transport ist schon zu Ihnen unterwegs. Es sieht nicht gerade gut aus.“ Dann schilderte sie ihm die ersten Erkenntnisse vom Tatort. Von Sülzen pfiff laut durch die Zähne.
„Ich nehme an, Frau Kayser, Sie wünschen sich angesichts dieser Tragödie noch heute einige hilfreiche Details?“ Die Sachlichkeit war in seine Sprache zurückgekehrt.
„Darum bitte ich Sie inständig. Leider kann ich zurzeit niemanden entbehren, der Ihnen als Zeuge bei der Begutachtung zur Seite stehen könnte. Wäre es Ihnen möglich, im Revier im Steintor nachzufragen, ob sie einen Beamten abstellen können? Aber einen mit Erfahrung, der heute Abend noch zu uns kommen und berichten kann.“
„Das macht bestimmt keine Schwierigkeiten. Ich habe denen erst zum letzten Betriebsfest ein Fass Bier spendiert und fürs nächste eins in Aussicht gestellt. Das lassen die sich bestimmt nicht entgehen.“
Mechthild war erleichtert. Seit ihr Stellvertreter das Kommissariat verlassen musste, hatte es immer noch keinen Ersatz für ihn gegeben. Nicht einmal die Stelle war vom Polizeipräsidenten
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