Wille zur Macht
Er kniete auf dem Boden zwischen den Beinen eines umgelegten Stuhles. Sein Oberkörper ruhte auf der Rückenlehne. Das Sitzkissen des Stuhles fehlte, und die Oberschenkel des Toten waren an den Rahmen des Sitzes gefesselt. Seine Arme waren straff unter der Lehne hindurchgeführt und ebenfalls am Stuhlrahmen festgebunden worden. Der Kopf hing vorne über die Lehne. Die Augen waren geschlossen. Die Zunge hing links aus dem Winkel des leicht geöffneten Mundes.
„Wie kann man nur so etwas tun?“ fragte Harald Strehlow fassungslos, als er die tiefen Schnittwunden auf dem Rücken des Toten sah.
Mechthild inspizierte sie genauer. Sie schaltete ihr Diktiergerät wieder auf Aufnahme. „Die Schnittwunden auf dem Rücken haben die Form eines fünfzackigen Sterns. Geschätzter Durchmesser fünfundzwanzig Zentimeter, Tiefe mindestens ein Zentimeter.“
Jetzt erkannte es Harald Strehlow auch. Dem Toten war ein Stern in den Rücken geschnitten worden. Langsam wurde ihm doch mulmig im Magen. Es war nicht nur der Geruch der Leiche und ihrer Exkremente. Es war noch etwas anderes, das die Übelkeit in ihm auslöste. Sein Blick begann zu flimmern. Irgendetwas anderes stank hier noch so erbärmlich, dass es ihm auf den Magen schlug. Aber irgendwo hatte er es schon einmal gerochen. Er konnte es nur nicht zuordnen. Etwas benommen hörte er Mechthild Kaysers Stimme.
„Schwere Verbrennungen an den Fußsohlen des Opfers. Die Haut ist zum Teil verkohlt.“
Jetzt wusste er, woher er diesen Geruch kannte. Erst heute Morgen hatte er ihn in der Pathologie wahrgenommen, als Professor von Sülzen ihm die gekühlte Brandleiche vorführte.
Er war sich sicher, dass er diesen Geruch seinen Lebtag nicht vergessen würde. Und er spürte ebenso, dass er ihn zukünftig nicht mehr erschrecken konnte.
Vom Flur der Wohnung hörte man leises Gepolter und verschiedene Stimmen. Kayser und Strehlow drehten sich zur Tür. Fritz Behrmann und zwei seiner Mitarbeiter aus dem Erkennungsdienst standen im Türrahmen, ihre großen Aluminiumkoffer in den Händen. Mechthild Kayser hatte für diesen Mann tiefe Gefühle. Aber in dieser Situation, in der sie Gefühlsregungen ausschalten musste, um ihre Arbeit machen zu können, spürte sie sie nicht. Sie waren ihr nur als Fakt in ihrem Bewusstsein bekannt. Für Emotionen war hier kein Platz. Die Liebe konnte sich an diesem Ort keine Bahn brechen.
„Hallo Mechthild“, begrüßte Fritz Behrmann bedrückt die Leiterin der Mordkommission. In seiner Stimme lag Traurigkeit. Auch er schien in diesem Moment von seiner Liebe zu ihr nur zu wissen, sie aber nicht zu fühlen.
Aber das kannten beide. In den vielen Jahren ihrer Arbeit hatten sie verstanden, dass das ständige Ausschalten der Emotionen zwar zur Professionalität gehörte, sie aber gleichsam zu „Seelenkrüppeln“ machte, wie sie es nannten. Auswirkungen auf das Privatleben miteingeschlossen.
„Sieht scheußlich aus“, fuhr Behrmann fort. „Am besten, Ihr lasst uns erst mal ran.“
Mechthild Kayser gab Harald Strehlow ein Zeichen, und dann verließen sie den Tatort. Im Vorbeigehen streifte Mechthild Fritz Behrmann an der Schulter. Ein kurzes Zucken, ein kurzer Blick. Zu mehr reichte es an diesem Ort nicht.
„Ich wusste, dass etwas passiert sein musste!“ rief Erna Ratzenow vom oberen Treppenabsatz. „Ich wusste es!“
Mechthild sah nach oben. Dann wieder zu ihrem Praktikanten.
„Gut, Herr Strehlow. Ich spreche mit der alten Dame, und Sie fangen unten im Haus an und befragen die anderen Bewohner. Geräusche, Besucher, alles, was die Leute von ...“, sie kramte den Totenschein hervor, „von Christian Dunker wissen.“
Sie überflog die Angaben des Totenscheins. Der Notarzt hatte als Todeszeitpunkt „vor circa drei Tagen“ eingetragen.
„Besonders, was Ihnen in den letzten drei, vier Tagen aufgefallen ist. Kommen Sie damit klar?“
„Natürlich! Ich schreibe alles genau auf. Aber bei der Auswertung müssen Sie mir helfen.“
„Keine Sorge, Herr Strehlow. Wir arbeiten immer im Team. Alle Erkenntnisse werden im Kommissariat besprochen. Die Schlussfolgerungen werden gemeinsam gezogen. Notieren Sie einfach alles. Lassen Sie bei ihren Fragen der Phantasie freien Lauf. Aber verschweigen Sie den Leuten die Details. Wir haben nur eine Leiche, sonst nichts. Und nun los!“
Harald Strehlow machte sich auf den Weg zu den Wohnungen im Parterre, während Mechthild die wenigen Stufen zu Frau Ratzenow hinaufstieg. Sie hoffte inständig, dass der
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