Wille zur Macht
laufen. Ohne Ergebnis. Wenig später klopfte es an ihrer Bürotür. Ohne eine Antwort abzuwarten trat eine junge Frau mit einem Stapel Akten ein. Mechthild war erstaunt. So schnell hatte sie ja noch nie die Unterlagen aus der Registratur erhalten.
„Es geht ja schließlich um Mord“, bemerkte die junge Frau. „Man weiß ja, dass die ersten 48 Stunden die entscheidenden sind!“
Mechthild nickte und bedankte sich kurz. Sie wusste, dass in ein paar Jahren auch diese junge Kollegin durch die Bürokratie so abgestumpft sein würde, dass sie keine Lust mehr verspüren würde, schnell zu arbeiten. Aber jetzt hatte es ja geklappt.
Sie nahm sich zuerst die Akte über die Nötigung vor. Dunker war vom Landgericht Göttingen zu sechzig Tagessätzen verurteilt worden. Er hatte an einer Straßenblockade vor einem nicht näher bezeichneten Unternehmen teilgenommen. Die Akte gab nicht viel her. Die kompletten Originalunterlagen waren eben in Göttingen. Aber jemand musste sie schon einmal angefordert haben, denn sonst gäbe es in Bremen außer dem Eintrag in der elektronischen Täterdatei keine Akte. Das Deckblatt der alten Akte, aus dem hervorgehen würde, wer sie angelegt hatte, fehlte allerdings. Das kam häufiger vor. Entweder wurde vergessen, es anzulegen, oder aber beim Umsortieren der Akten fiel es heraus, und jemand hatte keine Lust, es wieder ordentlich abzuheften und schmiss es einfach weg. Aber eine so große Rolle spielte das jetzt nicht. Wenn Mechthild mehr wissen wollte, konnte sie immer noch die Unterlagen aus Göttingen anfordern.
Der zweite Aktendeckel war praller gefüllt. Christian Dunker hatte 1983 an einer Demonstration zum Gedenken an den 6. Mai 1980 teilgenommen. Damals, 1980, kam es zu einer wahren Schlacht zwischen Polizei und Demonstranten am Bremer Weserstadion. Der damalige Bürgermeister der Stadt ließ eine öffentliche Rekrutenvereidigung im Stadion durchführen, und aus der ganzen Republik reisten Gegner eines für sie damit aufkeimenden Militarismus an. Es gab Hunderte von Verletzten auf beiden Seiten. Bremen war damals fast im Ausnahmezustand.
Dunker hatte laut Akte am 6. Mai 1983 versucht, einen Randalierer aus den Fängen der Polizei zu befreien und war dabei selbst festgenommen wurden. Diesmal kam er nicht mit einer Geldstrafe davon. Er wurde zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt. Aber seitdem hatte er sich nichts mehr zu Schulden kommen lassen. Mittlerweile war er etwa zwanzig Jahre nicht mehr polizeilich in Erscheinung getreten. Oder er hatte sich nicht mehr erwischen lassen.
Mechthild machte sich für die abendliche Besprechung ein paar Notizen und klappte den Aktendeckel zu. Sie ging ins Internet und gab Christian Dunkers Namen bei Google ein. Zu ihrer Überraschung tauchte er hier gleich mehrfach auf. Sie begann, die einzelnen Einträge aufzurufen und zu lesen. Dunker hatte mehrere Artikel verfasst. Er hatte Boykottaufrufe gegen die USA und China veröffentlicht, war auf einer Seite der Globalisierungsgegner zu finden und schrieb immer wieder Beiträge zur Klimaveränderung. Er war Beisitzer im Vorstand einer Menschenrechtsorganisation und hatte für einen Verein geschrieben, der sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Polizei zu beobachten. Zudem gehörte er einer Organisation an, die sich dem Kampf gegen den Rechtsextremismus widmete.
Mechthild staunte über so viel Engagement. Und ihr fielen die Worte ihres PP wieder ein: Glauben Sie, dass es etwas Politisches ist?
Wieso hatte er ihr diese Frage gestellt? War das ein Zufall gewesen, oder wusste er schon mehr über das Opfer, bevor er mit ihr gesprochen hatte? Sie lehnte sich nachdenklich in ihrem Stuhl zurück. Sie faltete die Hände und legte sie an ihre Lippen. Hatte der PP beabsichtigt, sie auf eine Spur zu bringen, oder wollte er sie von einer abhalten? Oder verbarg sich hinter seiner Äußerung überhaupt gar keine Absicht?
Eindeutig war, dass Dunker dem Staat sehr kritisch gegenüberstand. Vielleicht sogar feindlich. Wenn es ein politisches Motiv für die Tat geben würde, sollte ihn dann der in den Rücken geschnittene Stern als unerwünschten Linken kennzeichnen? Aber genau das konnte ohne weiteres auch eine falsche Spur sein und ausschließlich der Ablenkung der Polizei dienen. Wenn ein politischer Gegner an Dunker ein Exempel statuieren wollte, warum hatte er ihn dann vorher so grausam gequält? Das ergab für Mechthild vorerst keinen Sinn.
Als die Tür ihres Büros aufgerissen wurde, stellte sie nach einem Blick
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