Wille zur Macht
durchflutete sie. So sollte es immer weitergehen.
Aber eine markige Stimme riss sie aus ihrer Traumwelt und mochte überhaupt nicht dazu passen. „Einer Stadt muss es zuerst immer um ihre eigenen Bürger gehen“, schallte es aus dem Fernseher. „Einem Deutschen zuerst um Deutschland!“ Im Fernsehen lief ein Wahlkampfspot der Partei „Bremen nach vorn“. Mechthild wurde barsch aus ihren Imaginationen gerissen und suchte verzweifelt die Fernbedienung. Sie wollte schnell wieder hinweggleiten und sich nicht so einen Scheiß anhören. Doch sie hatte sie verlegt. „Zwanzig Jahre haben die Linken diese Stadt regiert. Und ruiniert! Unsere Kinder trauen sich nicht mehr in die Schulen. In den Vorstädten entstehen fremdländische Parallelgesellschaften. Damit muss jetzt Schluss sein!“ Endlich hatte Mechthild die Fernbedienung unter einem Sofakissen entdeckt. Sie suchte den Programmwahlknopf und blickte noch einmal auf den Bildschirm. Und hielt inne. Das Konterfei eines sonnengebräunten Sonnyboys blickte sie an und ließ sie erstarren. Sie blickte auf das vor ihr auf dem Tisch liegende Photo des Colonels und wieder zurück auf den Bildschirm. Noch einmal hin und her. Kein Zweifel: Der Spitzenkandidat von „Bremen nach vorn“ war der Colonel. Nur eben älter geworden. In Mechthilds Kopf begann es zu rauschen. Der Wahlkampfspot war zu Ende. Sie schaltete den Fernseher auf stumm und ging zu dem auf ihrem Schreibtisch platzierten Laptop. Schnell rief sie das Internet auf und ging auf die Seite dieser erstmals in Bremen zur Bürgerschaftswahl antretenden, populistischen Partei. Gleich auf der ersten Seite prangte das Gesicht ihres Spitzenkandidaten Cäsar Hermstein. Sie klickte das Bild zum Vergrößern an und holte dann das Photo vom Wohnzimmertisch. Sie konnte es kaum glauben. Es war unvorstellbar. Cäsar Hermstein war der Colonel. Aufgeregt griff sie zum Telephon und wählte Ayses Handynummer.
„Wo bist du gerade?“ fragte sie, ohne sich vorzustellen. Ayse erkannte die Stimme ihrer Freundin sofort.
„Im Büro natürlich.“
„Komm zu mir nach Hause!“ forderte Mechthild sie auf. Aber dann fiel ihr ein, dass ihr Telephon vielleicht überwacht werden würde. Mit betont bedrückter Stimme fuhr sie fort. „Ich habe irgendwie einen Depri wegen Anna. Es wird mir alles zu viel. Kannst du kommen?“
Ayse stimmte sofort zu. Sie wusste, dass es irgendwann schlimmer werden musste. Mechthild konnte nicht immer so tun, als wenn sie das Verschwinden ihrer Tochter alleine bewältigen könnte. Nur kurz erklärte Ayse Fritz Behrmann, warum sie dringend aus dem Büro musste. Fritz wollte mitkommen, aber Ayse wehrte ab. „Es ist besser, wenn wir Frauen erst einmal alleine sind.“
Als Ayse endlich voller Sorge das Haus ihrer Freundin erreichte, war sie schon auf alles vorbereitet. Sie hatte Beruhigungspillen dabei und die Telephonnummer eines befreundeten Therapeuten, der ihr zugesichert hatte, im Notfall sofort zu kommen. Nervös betätigte sie die Klingel. Als Mechthild ihr öffnete, schien diese aber schon wieder ganz gefasst zu sein.
„Tut mir leid, Ayse. Es ist wirklich nichts. Ich wollte nur nicht, dass einer den wahren Grund erfährt, warum du herkommen solltest.“ Sie zog ihre Freundin ins Haus.
Ayse wurde wütend. „Weißt du eigentlich, was ich mir für Sorgen gemacht habe? Ich habe immer damit gerechnet, dass Annas Verschwinden dich eines Tages aus der Bahn werfen wird. Und jetzt hast du mir nur etwas vorgemacht?“ Aufgebracht ging sie im Wohnzimmer auf und ab. Dann fiel ihr Blick auf den Plasmabildschirm von Mechthilds Laptop. Verdutzt blieb sie stehen und hielt inne. Sie beugte sich langsam herunter.
„Das, das gibt es doch nicht“, stammelte sie.
„Und ob“, konstatierte Mechthild nicht ohne Stolz. „Du siehst es also genauso wie ich?“
Ayse setzte sich auf den kleinen Stuhl vor dem Schreibtisch. Auch sie ließ ihren Blick jetzt zwischen den beiden Bildern hin und her wandern. „Mein Gott, Mechthild. Ein Volltreffer!“ All ihre Wut war verflogen und einer Aufgeregtheit gewichen. „Und was machen wir jetzt?“
Mechthild hockte sich neben ihre Freundin. „Wenn ich das nur wüsste, Ayse. Wir müssen alles, was wir haben, noch einmal neu zusammenfügen. Dann sehen wir weiter.“
Mechthild heftete ein großes Blatt Papier an die Wohnzimmerwand. Dann begann sie zu notieren: Hermstein in Nicaragua, Dunker auch. Konservative Partei, „Bremen nach vorn“. Und über allem mit einem dicken
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