Willenlos
durchdringendem Blick hatte er seine Unschuld beschworen. Auf dem Weg über den Parkplatz gab sie sich einen Ruck, ließ die Worte heraus, bevor ihr Verstand die Möglichkeit hatte, es zu verhindern.
»Es hat sich etwas geändert, ich habe einen Freund.«
Karin blieb stehen, schloss einen Moment die Augen und atmete durch.
»Scheint ja eine richtige Stimmungskanone zu sein.«
»Ulf Gerster, Lehrer in Moers.«
Joshua zuckte die Schultern und ging weiter.
»Kenne ich nicht.«
Karin wollte antworten, aber sie hatten die Schleuse erreicht. Ein Angestellter der JVA in grüner Uniform fragte nach den Ausweisen. Karin schluckte.
Thalbach kam in Begleitung eines Wärters in den fensterlosen, kleinen Raum. Sein linkes Auge war blau unterlaufen und leicht angeschwollen, die Unterlippe blutverkrustet. In den tief zurückliegenden Augen war Wut erkennbar.
»Hatten Sie einen Unfall?«
Thalbach drehte den Kopf zu Karin, lachte zynisch.
»Ich bin vor eine Tür gelaufen, offiziell«, schob er hinterher.
»Man hat Sie verprügelt.«
Wieder zynisches Lachen.
»Haben Sie eine Vorstellung davon, auf welcher Stufe der Beliebtheitsskala ehemalige Staatsanwälte in diesem Etablissement rangieren?«
Hauchdünn über Kindermördern, wusste Karin. Sie fragte sich, wie lange sein Überlebensdrang noch andauern würde.
»Herr Thalbach, bleiben Sie bei Ihrer Aussage, nie in Recklinghausen gewesen zu sein und Dr. Falko Rieger nicht gekannt zu haben?«
»Selbstverständlich. Was soll das?«
»Es gab vor wenigen Wochen einen Mord an einem Kollegen. Beweislage und Begleitumstände der Tat weisen Ähnlichkeiten zu Ihrem Fall auf.«
Thalbachs Gesichtshaut spannte sich. Die kleinen, dunklen Pupillen tanzten zwischen Karin und Joshua hin und her.
»Das gibt’s doch nicht. Werden Sie meine Unschuld beweisen können?«
»Das hängt auch von Ihnen ab. Wir haben die Ermittlungsakten erst heute Morgen bekommen. Ich konnte sie noch nicht durcharbeiten. Sie behaupten, nicht in Recklinghausen gewesen zu sein. Wo waren Sie zur Tatzeit?«
Thalbach seufzte.
»Im ›Jailhouse‹, einem Bistro in der Nähe des Gerichts, das dürfte Ihnen nichts nutzen.«
»Vielleicht wohl, bitte schildern Sie uns jedes Detail.«
»Ich werde Ihnen meine Sicht schildern, obwohl man mir das Gegenteil nachgewiesen hat. Ich begreife das nicht.«
Thalbach stützte die Ellenbogen auf der Tischplatte ab.
»Meine Frau betreibt eine kleine Boutique in der Innenstadt. Ich warte oft in dem Bistro auf sie, wir fahren dann gemeinsam heim. So war es auch an diesem Tag. Gegen 17.30 Uhr habe ich mich an einen kleinen Tisch in die Ecke gesetzt. Ich bestellte mir ein Baguette und einen Milchkaffee. Ich habe das Baguette gegessen, mir eine Zeitung von der Theke geholt, den Kaffee getrunken. Ich sah auf die Uhr, es dürfte höchstens eine Viertelstunde vergangen sein. Aber …«
Thalbach wurde leiser, »es war 19 Uhr und meine Tasse war randvoll. Ich weiß, es klingt unglaublich. Die Kellnerin sagte vor Gericht aus, ich hätte das Bistro um 17.50 Uhr verlassen und sei gegen 18.50 Uhr zurückgekommen. Das kann nicht sein!«
Karin und Joshua sahen sich ratlos an. Thalbach musste wissen, wie unglaubwürdig diese Geschichte klang. Joshua fiel ein Protokoll ein, demnach Thalbach behauptet hatte, das Opfer nicht gekannt zu haben.
»Hat man Ihnen ein Foto des Opfers gezeigt?«
»Ja, natürlich. Ein Tatortfoto.«
»Kein anderes?«
»Nein.«
»Ein solches Foto gibt eine Person oft falsch wieder. Vielleicht kannten Sie Rieger doch irgendwoher. Es muss einen Zusammenhang geben.«
»Herr Trempe, glauben Sie mir, ich habe hier sehr viel Zeit. Der Name schwirrt seit Monaten durch meinen Kopf. So heftig, dass ich mir schon einbilde, ihn zu kennen. Als ich ihn zum ersten Mal von der Polizei gehört habe, kam er mir bekannt vor. Das passiert mir oft, ich hatte in meinem Beruf mit sehr vielen Menschen Kontakt. Mit Herrn Rieger garantiert nicht, der laut Auskunft Ihrer Kollegen eine blütenweiße Weste hat. Wäre sowieso nicht in meinen Zuständigkeitsbereich gefallen. Als Arzt ebenso wenig, meinen Zahnarzt habe ich schon 15 Jahre, er hat seine Praxis hier in der Innenstadt.«
»Gut. Das wär’s vorerst. Sollte Ihnen noch irgendwas einfallen …«, Joshua reichte ihm eine Visitenkarte.
»Werden Sie den Fall neu aufrollen?«
»Das prüfen wir gerade.«
»Sollen wir mit der Gefängnisleitung reden?«, Karin deutete auf seine Augen.
»Ich habe bereits eine Einzelzelle. Es
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