Willenlos
Land gesichtet.«
Joshua verzog die Mundwinkel. Das war bei der schlechten Qualität zu erwarten. Nachdem der Polizist sich einen kurzen Überblick verschafft hatte, sank seine Hoffnung Richtung Nullpunkt. In Kaiserswerth und der Nähe des Duisburger Tatortes hatte ihn niemand gesehen. Dafür wurde er um 10.15 Uhr am Kölner Hauptbahnhof gesichtet und um 10.30 Uhr in der Essener Innenstadt. Daniel hatte sich in der Zwischenzeit um die Adressen der ehemaligen Straftäter bemüht.Karnakova war nirgendwo in Deutschland gemeldet, Leon Bartram hatte seinen Wohnsitz in Oberhausen, er hatte die Kollegen der Rufbereitschaft beauftragt, ihn abzuholen. Roland Flander lebte in einer Wohngemeinschaft in Gladbeck. Flander stand noch unter Bewährung. Daniel rief Rolf Sulzer, den Bewährungshelfer an. Er wollte die Ermittler unbedingt sprechen, bevor sie Flander aufsuchten. Sie verabredeten sich in einem Café in Gladbeck.
Joshua legte die Mappe zur Seite und ging zur Staatsanwaltschaft.
Bornmeier hatte ausgesprochen gute Laune.
»Trempe, nett, dass Sie mir persönlich berichten möchten. Wie weit sind Sie? Konnten Sie meinen Kollegen bereits entlasten? Ich war gestern Abend bei der Familie, habe mich schon mal im Namen aller Beteiligten entschuldigt. Aber nun müssen Taten folgen.«
Um sein Anliegen zu unterstreichen, wählte der Staatsanwalt einen ernsten Gesichtsausdruck. Joshua wurde unruhig. Selbst wenn er seine persönliche Meinung mit der größtmöglichen Höflichkeit äußern würde, wäre in Sekunden ein Streit entbrannt, der seinem Anliegen nicht gerade zuträglich sein würde. Er verdrängte Bornmeiers Frage so gut es ging und konzentrierte sich auf das Wesentliche.
»Vorrangig müssen wir weitere potenzielle Opfer schützen. Auf diesem Weg gelangen wir möglicherweise auch an den Täter.«
»Sie möchten Personenschutz beantragen. Nun gut, für wen denn?«
»Personenschutz reicht nicht, wir müssen observieren. Hier ist eine Liste aller Zielpersonen. Um die entsprechenden Adressen kümmern wir uns.«
Joshua reichte dem Staatsanwalt ein DIN-A4-Blatt. Bornmeier überflog den Zettel, ein dunkler Schatten legte sich über das eben noch joviale Lächeln. Mit dem Zeigefinger strich er langsam über die Auflistung. Anschließend legte er das Blatt vorsichtig, als sei es zerbrechlich, vor sich ab.
»Das sind 53 Personen. Sie wollen allen Ernstes 53 Personen rund um die Uhr observieren lassen?«
Joshua hob für einen Augenblick den Kopf und presste Luft aus seinen Lungen.
»Herr Bornmeier, von ›wollen‹ kann keine Rede sein. Wir haben nicht den geringsten Hinweis auf den Täter. Wir wissen nur, dass alle Opfer, damit schließe ich auch die vermeintlichen Täter mit ein, an einer Gerichtsverhandlung teilgenommen haben. Drei Prozesse dürften relevant sein. Welcher es davon war, wissen wir nicht. Sicher ist aber, dass an dem fraglichen Prozess noch mehr Personen beteiligt gewesen waren. Diese Personen schweben in höchster Lebensgefahr. Sie befinden sich auf dieser Liste.«
Joshua wunderte sich über die Sachlichkeit, mit der er Bornmeier überzeugt zu haben glaubte. Bornmeier beugte sich vor, stützte das Kinn auf die gefalteten Hände und beobachtete Joshua einige Sekunden wortlos. Anschließend richtete er sich entschlossen auf.
»Ihr Argument klingt auf den ersten Blick schlüssig. Auf den zweiten Blick fallen allerdings enorme Kosten auf. Für eine Observierung rund um die Uhr werden sechs Beamte benötigt. Pro Person wohlgemerkt, bedeutet in Ihrem Fall den Einsatz von 318 Kräften! Trempe, beim besten Willen, Sie sollten die Zahl erst einmal einschränken. Das muss doch möglich sein. Ich meine, Sie stehen erst am Anfang der Ermittlungen. Das brauche ich Ihnen doch nicht sagen.«
Joshua spürte plötzlich ein Maß an Resignation aufkommen, welches ihm in seiner Zeit als Ermittler bislang unbekannt war. Polizist zu sein, war für ihn stets die Erfüllung eines Kindheitstraums gewesen. Er konnte sich selbst in scheinbar aussichtslose Fälle festbeißen. Seine persönliche Aufklärungsquote lag bei vollen 100 Prozent. Aber jetzt und hier schien ein Punkt erreicht, an dem er zum ersten Mal an Aufgabe dachte. Joshua hatte einfach keine Kraft mehr für sinnlose Grabenkämpfe mit der Bürokratie. In der Vergangenheit hatte er sich eingeredet, es würde zum Spiel gehören, glaubte manchmal, es war Bornmeiers Art, ihn zu Höchstleistungen anzutreiben, die Argumente ständig zu hinterfragen. So wie
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