Willenlos
mehrfach in den Hörer, Karin und Joshua amüsierten sich über den Wutausbruch ihres Kollegen. Urplötzlich verstummte die Musik, die Stimme eines anderen Jungen drang aus dem Lautsprecher.
»Daniel …«, er hörte sich mitleidig an, »hast du irgendwo Kleber?«
»Wofür braucht ihr Kleber?«
»Ist nicht so wichtig, man kann ja auch so Fernsehgucken, ohne Fernbedienung.«
Daniel schluckte. Die Jungen nutzten die Pause für weitere Streitigkeiten. Bedrohliche Wortfetzen drangen an Daniels Ohren.
»Ich sag sowieso, dass du die kaputt gemacht hast … dann sag ich, dass du den Computer kaputt gemacht hast … Blödmann, wer hat denn die Cola über die Tastatur gekippt … Aua, lass das. Denkst du, hinter dem Glaskasten kriege ich dich nicht?«
»Vorsicht!«, schrie Daniel. Sein Schrei ging unter in lautem, lang anhaltendem Klirren. Daniel rang nach Luft, er öffnete mit bleichen Fingern den Krawattenknoten.
»Was habt ihr gemacht? … hallo … HALLO.«
Daniel hob den Kopf, sah Joshua fassungslos an.
»Aufgelegt.«
»Bisschen lebhaft, die Kleinen, was?« Joshua musste sich beherrschen, damit die Frage nicht in lautem Lachen unterging.
»Könntet ihr eine Stunde auf mich verzichten? Ich muss dringend nach Hause.«
»Meinst du, sie lassen dich mitspielen, wo sie gerade so schön in Form sind?«
»Ja … äh nein. Wenn Schorndorf …«
»Schon gut, wir regeln das«, beschwichtigte Karin mit strengem Blick auf Joshua, der sich vor Lachen bog.
»Das sind nicht alle.«
Karin blätterte durch die Kopien der Gerichtsprotokolle.
»Bei allen Prozessen gab es mindestens noch einen weiteren Zeugen. Dazu der Strafverteidiger und manchmal noch Gutachter.«
»Ein Gutachter trägt nur Fakten vor, ohne jedwede persönliche Interpretation. Was den Verteidiger betrifft, der dürfte auf der Seite des Angeklagten stehen, oder?«
»Abgesehen davon, dass wir nicht sicher sein können, ob der Täter rational handelt, dürfte er, falls er sich für unschuldig gehalten hatte, wohl kaum mit seinem Anwalt zufrieden gewesen sein.«
»Also gut«, Joshua beobachtete sie scharf, »gehen wir logisch vor. Wer oder was kann dem Angeklagten am ehesten schaden? Vielleicht verfolgt der Täter eine bestimmte Rangfolge?«
»Eine falsche Zeugenaussage, aber die ersten Opfer waren der Staatsanwalt und ein Schöffe. Ersteren kann ich nachvollziehen, aber ein Schöffe? Die agieren doch in der Regel im Verborgenen.«
»Nicht unbedingt, auch ein Schöffe darf Fragen stellen. Wird zwar vom Richter nicht gern gesehen, aber möglich ist es.«
»In Ordnung, das muss im Protokoll stehen. Das nächste Opfer: Klaus Dahlmann, war ein Zeuge, der mutmaßliche Täter wieder ein Schöffe.«
Joshua fiel die Beerdigung Dahlmanns ein. Die Kollegen hatten für dessen Familie sammeln wollen. Es kam ihm selbstverständlich vor. Doch die Witwe hatte dankend abgelehnt.
»Seifert erzählte mir, dass Dahlmann seiner Familie ein kleines Vermögen hinterlassen hat.«
Der Gedanke, den Joshua unausgesprochen in den Raum stellte, war düster wie die Gewitterwolken, die sich allmählich zusammenschoben. Karin verdrängte die Vorstellung, Dahlmann habe für Geld eine Falschaussage abgeliefert. Gerade der vorliegende Fall zeigte ihnen, dass Dinge oft eindeutig erscheinen und sich bei näherem Hinsehen als trügerische Wahrheit entpuppen.
»Möglicherweise hatte Dahlmann unwissentlich falsch ausgesagt. Die Beweise waren eindeutig und er hatte unterbewusst die falschen Schlüsse gezogen.«
»Möglich. Ohne die Gerichtsakten kommen wir nicht weiter«, Joshua hing die Lederjacke über den linken Arm und ging.
32
Der Vollmond hoch über dem Backsteinhaus aus der Mitte des letzten Jahrhunderts verwandelte die hohen Fichten in finstere Monumente. Durch ein Flügelfenster im Erdgeschoss waren die Umrisse zweier Männer erkennbar.
»Ich hatte dir genug gegeben.«
Er hielt die kleine Dose fest in der Hand.
»Die Wirkung hatte nachgelassen, ich musste dem Richter noch mal nachschenken.«
»Was mache ich hier?
«,
hatte List plötzlich gefragt. Panik überkam ihn. Obwohl er nicht damit rechnete, trug er immer einen Flachmann mit Mineralwasser bei sich. Mit vor Nervosität zitternden Händen hatte er das Pulver eingefüllt.
»Wer sind Sie?«
Alles schien vorbei. Es blieb nur dieser eine Versuch.
»Sie hatten einen Kreislaufkollaps. Ich bin Arzt. Trinken Sie, es wird Ihnen helfen.«
Er sah ihn vor sich: Ein gräulicher Schatten, der aus tiefer
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