Willenlos
einem randvollen Umzugskarton mühte er sich durch die Tür.
»Wohin damit?«
Joshua deutete auf eine Stelle auf dem Fußboden unter den Kleiderhaken.
»Ist das der Rest?«
Der Junge rollte die Augen.
»Nee, acht Kartons stehen noch unten. Ich schaffe immer nur einen, die sind so schwer.«
Im Umdrehen stieß er mit Karin zusammen. Ohne ein Wort ließ die Ermittlerin ihre Augen über die Schreibtische gleiten.
»Ich denke, es waren nur vier Fälle.«
Joshua fingerte in einem der Kartons, las die Etiketten auf den Rückseiten der Ordner.
»Fünf, aber ein Täter sitzt noch. Das gehört schon mal alles zu einem Fall.«
Er setzte sich und wählte Jacks Nummer.
»Sag mal, was soll das? Willst du uns die nächsten sechs Wochen mit Aktenstudium lahmlegen?«
»Du wolltest die Gerichtsakten einsehen. Hast du geglaubt, die Protokolle, Beweisanträge, Gutachten und der ganze Krempel passen in einen Schnellhefter?«
»Wir müssen uns aufteilen.«
»Habe ich mir gedacht. Ihr solltet euch auch nur einen ersten Überblick verschaffen.«
Der Praktikant brachte den nächsten Karton. Allmählich wurde es eng im Büro.
Nach einer halben Stunde hatten sie die wichtigsten Daten der einzelnen Fälle in Form von Kopien zusammengetragen. Der junge Mann brachte den letzten Karton. Das T-Shirt klebte schweißnass auf dem Oberkörper, sein Gesicht glänzte feucht. Er wollte sich verabschieden, als Joshua ihn um Geduld bat. Es fehlte noch ein Urteil samt Protokoll der Urteilsverkündung. Nach zwei Minuten hatte Joshua es kopiert und heftete es in die Akte zurück.
»So das wär’s, die Akten können wieder nach unten. Auf dem Zettel steht, wer welche Kartons bekommt.«
Joshua reichte dem perplexen Praktikanten den Notizzettel. Der Junge schluckte. Joshua blätterte in den Kopien, auf der Suche nach einem Anhaltspunkt.
»Wir sollten hinten anfangen«, bemerkte Daniel trocken. Joshua sah auf und runzelte die Stirn.
»Daniel hat recht«, meldete sich Karin, »wenn wir richtigliegen, dürfte der Täter kurz vor dem Mord an Rieger entlassen worden sein.«
Die Entlassungspapiere waren natürlich nicht darunter, Joshua las die Urteile laut vor:
»Jens Pagelmann, Raub mit schwerer Körperverletzung, wurde am 6. April 1990 zu acht Jahren Haft verurteilt. Der ist schon lange draußen.«
Joshua überblätterte das nächste Urteil.
»Vladislav Karnakova, bewaffneter Raubüberfall in acht Fällen, bekam 1992 zehn Jahre, der dürfte ebenfalls nicht infrage kommen. Leon Bartram, 1992 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.«
»Und der ist schon draußen?«, Daniel klang empört.
»Ist 16 Jahre her«, Joshua zuckte die Schultern.
»Da haben wir noch einen Politischen: Roland Flander, Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim, 1992 zu 14 Jahren Haft verurteilt.«
»In Ordnung, Pagelmann und dieser Karnakova dürften wegfallen«, resümierte Karin, »bleiben noch zwei. Aber viel wichtiger: Wir können durchaus nicht sicher sein, wie viele Opfer der Täter noch auf seiner Liste hat.«
»Das ist ein Problem«, stimmte Daniel bei. Sie teilten die Fälle auf, vorsichtshalber bezogen sie auch den Fall Karnakova mit ein und durchforsteten die Protokolle der einzelnen Verhandlungstage. Zwei Stunden waren sie beschäftigt, die Namen aller an den Prozessen beteiligten Personen aufzulisten. Von Minute zu Minute verschlechterte sich die Stimmung der Ermittler, die Listen wuchsen beständig an. Als sie die Zahl der Zeugen, Anwälte, Gutachter und Nebenkläger addierten, kamen sie auf das frustrierende Ergebnis von 53 Personen, die es zu schützen galt. Die Fälle lagen bis zu 16 Jahre zurück, es würde mindestens einen ganzen Tag in Anspruch nehmen, alle aktuellen Adressen herauszufinden. Die weitaus größere Hürde dürfte der Staatsanwalt sein. Joshua wollte sich auf den Weg machen, als der Praktikant mit hochrotem Kopf wortlos den letzten Karton hochstemmte. Im Türrahmen stieß er beinahe mit Hendrik Lukas von der Pressestelle zusammen.
»Wo hast du denn den Wagen?«
»Was für einen Wagen?«, fragte der Junge hechelnd.
»Ich benutze immer den Handwagen, passen sechs Kisten drauf, hat dir das niemand gesagt?«
Während der Praktikant mit wutverzerrtem Gesicht an Lukas vorbeidrängelte, wedelte dieser mit einer Umlaufmappe.
»Erste Umfrageergebnisse.«
Er schmiss den Ordner lässig aus dem Handgelenk vor Joshua auf den Tisch.
»Euer Phantom stammt anscheinend aus einer Großfamilie, es wurde praktisch im ganzen
Weitere Kostenlose Bücher