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Willenlos

Willenlos

Titel: Willenlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erwin Kohl
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handgeschriebene Tabelle. Damals hatte er es kaum ausgehalten, die Nervosität bis zur Unkenntlichkeit ertränkt. Er musste in den Gerichtssaal, an jedem einzelnen Verhandlungstag. Musste der Verurteilung seines Bruders, die mit jeder Zeugenaussage, mit jedem Gutachten näher rückte, beiwohnen, um nicht aufzufallen. Er wunderte sich damals über die trügerische Sicherheit, mit der die Ankläger die Schuld unaufhörlich in eine feste Form gossen, bis es kein Entrinnen mehr gab. Eher gelangweilt notierte er sich damals die Namen der Beteiligten. Ein Umstand, dessen enorme Wichtigkeit er zu diesem Zeitpunkt nicht einmal erahnen konnte. Heute war es die Liste der Personen, für dessen Ermordung sein Bruder ein handfestes Motiv hat. Die Liste des Todes und der Genugtuung. Nun war alles bis ins kleinste Detail perfekt ausgearbeitet. Alles, bis auf eine Ausnahme.
    Der Zeitungsbote hatte vermutlich nicht die geringste Ahnung davon, welche Freude er ihm gemacht hatte. Wieder glitten seine Augen, erfüllt mit seidigem Glanz, über die Titelzeile. Beseelt schüttete er den Rest des Weins ins Glas und trank es gierig aus. Anschließend öffnete er den zweiten Rotwein, den er vorsorglich bereitgestellt hatte. Nachdem er eingeschüttet hatte, betrachtete er nachdenklich die Flasche.
    »Ein paar Tage noch, dann brauche ich euch nicht mehr«, murmelte er.
    Das Phantombild verlor an Schärfe, die Konturen wurden weicher, verschwammen, verloren sich schließlich in seichte Wellen. Er konnte den Albtraum spüren, hörte sein Klopfen ans Bewusstsein. Angestrengt bemühte er sich um Konzentration, presste die Lider herunter – getrieben von der Hoffnung, das herannahende Bild fortzujagen. Vorsichtig öffnete er die Augen, spürte den kalten Schweiß. Der spöttische Ausdruck ihrer mandelbraunen Augen zog wie ein Violinenbogen mit sanftem Druck über seine Nerven. Er schluckte, mit zitternder Hand führte er das Glas an den Mund. Wie in Zeitlupe öffneten sich ihre Lippen. Immer wieder hörte er den Satz, der sein Leben zerstörte. Die Häme, mit der sie sein Flehen ignorierte.
    ›Ich habe keine Lust, mein Leben an der Seite eines Säufers zu verplempern. Es ist aus. Ich mache reinen Tisch.‹
    Stechender Schmerz löschte das Bild. Rotwein lief über den Tisch, mischte sich mit dem aus der Faust tropfenden Blut. Nach einem kräftigen Schluck aus der Flasche zog er die Splitter aus der Innenfläche der Hand, wickelte anschließend eine Serviette darum. Tausendmal hatte er sich die Frage gestellt, nie eine Antwort gefunden. Hatte Lydia tatsächlich geglaubt, jemals an der Seite dieses Mannes glücklich zu werden? Und war sie wirklich bereit gewesen, ihn dafür zu zerstören?
     
     

36
    Joshua massierte mit beiden Händen sein Gesicht. Die Aufgabe, ausreichend Personal für die Observierungen zu bekommen, gestaltete sich schwieriger als erwartet. Eine halbe Stunde hatte er mit Jack beim Behördenleiter gesessen. Schorndorf hatte dieselbe Ansicht vertreten wie der Staatsanwalt, dennoch hatten sie es versucht. Die Polizeibehörden Essen, Krefeld, Duisburg und Bochum konnten zusammen gerade einmal 60 Kräfte abstellen, selbst dazu war erhebliche Überredungskunst erforderlich gewesen. Joshua war die Idee gekommen, von der Polizeischule Duisburg Auszubildende anzufordern. Nachdem sie seinem Anliegen zunächst positiv gegenüberstanden, hatte ihr Leiter schließlich mit dem Hinweis darauf, dass Auszubildende nicht über die notwendigen polizeilichen Rechte verfügten, Joshuas Hoffnung zunichte gemacht. Übrig geblieben war Plan B. Die Zielpersonen würden von jeweils einem Beamten beschattet. Dadurch war weder die Möglichkeit eines schnellen Eingreifens gegeben, noch war eine 24-Stunden-Überwachung möglich. Joshua entschied sich nach Absprache mit Jack für den Zeitraum von 14 bis 22 Uhr.
     
    Karin kam mit hochrotem Kopf aus dem kleinen Verhörzimmer. Wut sprühte aus ihren Augen. Joshua, der auf Leon Bartram wartete, hatte das Verhör aus dem Nebenraum verfolgt, wollte mehrmals eingreifen. Weil ihm klar war, dass er durch ein solches Verhalten Karins Position schwächen würde, hatte er sich zurückgehalten. Daniel war auf dem Weg zur Kriminaltechnik, er wollte so schnell wie möglich Belastungsmaterial bekommen, um Flander zu ›knacken‹.
    »Was bildet der sich ein?«, schrie Karin. Joshua hatte sie noch nie derart in Rage erlebt. Flander hatte die Kollegin während des gesamten Verhörs fortwährend aufs Übelste

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