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Willkommen auf Skios: Roman (German Edition)

Willkommen auf Skios: Roman (German Edition)

Titel: Willkommen auf Skios: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Frayn
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Hatte er es vielleicht doch irgendwo notiert? Selbstverständlich hatte er es notiert! Es stand auf dem Schildchen an seinem Koffer. Es stand auch ungefähr fünfzehnmal in den Unterlagen, die sie ihm geschickt hatten. Wo waren die Unterlagen? Das hatte er bereits mehrmals erklärt: Die Unterlagen befanden sich in seinem Koffer.
    Aber es spielte keine Rolle, was an oder in seinem Koffer vermerkt war. Was immer es war, es war nicht »Annuka Vos«, weil Annuka Vos nicht sein Name war!
    Nein, sie hatte ihren Aufenthaltsort nicht vermerkt, deswegen konnten sie auf Skios auch nicht Kontakt zu ihr aufnehmen. Ja, ihre Londoner Adresse stand darauf, sie könnten ihr demnach schreiben, gewiss, aber es könnte dauern, bis sie eine Antwort bekämen, vor allem weil sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in London, sondern hier auf Skios war.
    Und nein, er regte sich nicht auf. Er war vollkommen daran gewöhnt, sein Gepäck zu verlieren. Es war ein inhärenter Bestandteil der Lebensweise, der er sich verschrieben zu haben schien. Deswegen hatte er immer den Vortragstext bei sich. Hier – in seinem Handgepäck. Er tat sein Bestes, um den internationalen Austausch von Ideen zu fördern. Er verbrachte sein halbes Leben im Flugzeug, und während der anderen Hälfte blickte er auf die verschwommenen Gesichter, die zu ihm aufblickten, wohl wissend, dass die meisten nicht in der Lage waren, Englisch zu verstehen, oder mit offenen Augen schliefen oder für obskure Zeitschriften feindselige Artikel über ihn ausheckten. Tagelang saß er an Orten fest, an denen kein vernünftiger Mensch sein wollte, in Manila oder Minneapolis oder Minsk, während sein einziges sauberes Hemd in Manaus oder Manchester oder Murmansk war. Deswegen brachte ihn der Verlust seines Gepäcks nicht aus der Fassung.
    Diesmal jedoch war sein Koffer wahrscheinlich nicht in Manaus oder Murmansk. Es war mit großer Sicherheit hier auf Skios, nicht weiter als zwanzig Kilometer entfernt, da die Insel anscheinend nur zwanzig Kilometer lang war. Er vermutete, dass er nichts weiter tun musste, als die Insel entlangzugehen und »Annuka Vos« zu rufen.
    Außer es fände sich ein Hinweis auf Annuka Vos’ Aufenthaltsort im Koffer. Eine Möglichkeit, die empirisch überprüft werden konnte, da er nicht verschlossen zu sein schien.
    Der Beamte sah ihn argwöhnisch an. Er hatte nichts weiter begriffen, als dass Dr. Wilfred Ärger machte. Er ging eine Zigarette rauchen.
    Dr. Wilfred beugte sich über den Tisch und öffnete die Gurte um den Koffer. Und dann ritsch … ratsch …
    Als erstes nahm er einen Stapel buntbedruckter T-Shirts heraus. Einen Augenblick lang heiterte sich seine Stimmung auf, da er Annuka Vos plötzlich so deutlich vor sich sah, als würde sie vor ihm stehen – in den Dreißigern, leicht gebräunt, dezent blondiertes Haar. Sie würden sich in ihrem Hotel treffen, um die Koffer zu tauschen. Gemeinsam darüber lachen. Wie sich herausstellte, wusste sie, wer er war. Hatte seine Bücher gelesen. Sie würden etwas trinken … Zu Abend essen …
    Er kramte weiter. Der Koffer schien nichts zu enthalten, was auf ihren Aufenthaltsort auf Skios schließen ließ.
    Nur eine Badehose, Männerunterhosen und eine Flasche Aftershave.
    Sein Traum platzte wie eine Seifenblase. Ms. Vos war offenbar ein Transvestit. So dass sie vielleicht leichter zu finden war. Er schob den Koffer über den Tisch.
    Ob sein Besitzer jedoch ein Mann war, der sich als Frau fühlte, oder eine Frau, die sich als Mann kleidete, darüber war sich Dr. Wilfred nicht ganz im klaren.
    Die Klimaanlage sorgte im hoch aufragenden Palast des Vierradantriebs diskret für Kühlung, aber Oliver ließ das Fenster herunter, damit ihm die heiße duftende Luft der griechischen Nacht ins Gesicht wehte.
    »Wir sind alle so aufgeregt!« sagte Nikki. »Wir freuen uns alle so darauf!«
    Er hatte keinen blassen Schimmer, wer die anderen waren, die sich so freuten. Nikki allerdings schien wirklich aufgeregt. Sie schien sich tatsächlich darauf zu freuen, was immer es war. Er hörte es ihrer Stimme an. Er sah es ihrem Gesicht an, als es von den Scheinwerfern eines entgegenkommenden Wagens erhellt wurde.
    »Und ich erst!« sagte Oliver. Denn ja, er war aufgeregt. Was könnte wunderbarer sein als das – durch die mediterrane Sommernacht zu fahren neben einer Frau, die sich freute, bei ihm zu sein, während ihm alle Möglichkeiten der Welt offenstanden? Er fühlte sich auf intensive Weise lebendig, wie eine Eintagsfliege, die

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