Willkommen im Land der Liebe
und ihre Augen begannen zu tränen.
Sie war wieder in Baraka, im Land der tausend Träume.
Im Land der tausend Albträume.
Ein paar Minuten versuchte sie, eine einigermaßen bequeme Position auf dem harten knochigen Rücken des Kamels zu finden und die kratzige Wolldecke zu ignorieren, die ihre Haut fürchterlich jucken ließ.
Der Kameltreiber stieß das Kamel an, damit es aufstand. Keira klammerte sich an den Sattelgriff, als das Kamel die ersten schlingernden Schritte unternahm. Ihr Magen schlingertegenauso heftig.
Ans Ende der Welt hatte ihr Vater sie entführt – meilenweit weg von der zivilisierten Welt Atiqs.
Er hatte sie absichtlich von Familie, Freunden und Unterstützung isoliert. Was auch immer als Nächstes geschehen würde, es verhieß nicht Gutes.
„Das ist nicht gut“, sagte Sultan Malik Nuri, der von seinem Palast in Atiq aus mit seinem Bruder Kalen in London telefonierte. „Du hast einen internationalen Skandal ausgelöst und Baraka auf höchst negative Weise in die Nachrichten gebracht.“
„Das geht auch wieder vorbei“, erwiderte Kalen.
„Nicht, wenn du das tun wirst, was du – wie ich weiß – beabsichtigst.“
„Abizhaid ist seit Jahren eine Bedrohung.“
„Du kannst ihn nicht einfach eliminieren.“ Malik seufzte, und Kalen sah seinen älteren Bruder deutlich vor sich, wie er die Augen schloss und sich den Nasenrücken massierte. „Nicht ohne berechtigten Anlass.“
„Es gibt mehr Anlass als genug.“
„Ich spreche nicht von Verdachtsmomenten …“
„Ich auch nicht. Er steckt hinter dem Attentat auf dich vor fünf Jahren. Er hat den Mordversuch geplant und ist dafür nicht zur Rechenschaft gezogen worden.“
„Dafür hast du keine Beweise.“
„Du bist zu vertrauensselig.“
„Und du zu misstrauisch.“
„Deshalb haben wir auch verschiedene Jobs.“
Malik schwieg eine Weile, und als er wieder sprach, klang er sehr ernst. „Was ist mit dem Mädchen? Ihr Vater verlangt eine Entschädigung.“
„Nichts ist passiert.“
„Tu nicht begriffsstutzig. Du weißt, dass du ihr Leben zerstört hast. Du hast eine junge Frau aus einer guten Familieentehrt. Hast Vater und Tochter entehrt. Wer will sie jetzt noch haben?“
Kalen antwortete nicht sofort. „Ich weiß, dass sie in Gefahr ist“, sagte er schließlich. „Und ich habe auch schon einen Plan.“
„Abizhaid verlangt ihre Bestrafung.“
Was Malik damit, ohne es direkt zu sagen, zum Ausdruck brachte, war die Tatsache, dass Keira die Familienehre wiederherstellen musste. Wenn nicht durch Heirat, dann durch ihren Tod. So lautete das ungeschriebene Gesetz in Baraka.
„Sie hätte nie als Köder benutzt werden dürfen“, fügte Malik nach längerem Schweigen hinzu. „Wenn sie zu Schaden kommt …“
„Das wird sie nicht.“
„Ich bin bereit einzugreifen.“
„Das wird nicht nötig sein. Ich weiß, was ich tue.“
Keira richtete sich auf ihrem Matratzenlager auf dem Fußboden des Zeltes auf und zog die Knie an die Brust.
Einen Tag, zählte sie leise, zwei Tage, drei Tage. Seit drei Tagen hielt man sie nun schon hier fest. Drei Tage der Isolation. Drei Tage des endlosen Schweigens.
Früher hatte sie viele Sommer in Baraka verbracht. Sommer, in denen sie die Sprache gelernt und privaten Religionsunterricht bekommen hatte. Aber dieses Baraka hier, das der Zelte und Karawanen, der Nomaden und Kamele, hatte sie nie zuvor kennengelernt.
Nie zuvor war sie hinter den Bergen des Atlasgebirges gewesen, war in einem Wüstenzelt aufgewacht, an dessen Planen aus Leinen und Schaffell der Wind zerrte.
Im Vergleich zum grünen kühlen England war Baraka ihr immer sehr fremd erschienen, doch diese Wüste, so braun und unfruchtbar, die sich endlos in alle Richtungen erstreckte, war noch viel fremder.
Ihre Tage im Zelt verliefen merkwürdig, seltsam und irritierend. Niemand erzählte ihr etwas. Natürlich bekam sie nur die Frauen zu sehen, denn die Männer und Frauen lebten voneinander getrennt, und die wenigen Männer im Lager sah sie nur am Rand des Zeltplatzes, wo sie Wache standen. Die Frauen waren nicht unfreundlich. Wenn überhaupt, dann wirkten sie auf schüchterne Art neugierig mit ihren dunklen Augen hinter den Schleiern. Aber sie sprachen kein Wort mit ihr.
Mehrere Male hatte Keira versucht, ein Gespräch in Gang zu bringen, war aber jedes Mal gescheitert.
Ihr Schweigen sprach Bände, und es kam Keira in den Sinn, dass sie vermutlich Angst haben sollte. Aber sie fürchtete sich nicht, sie war nur
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