Willkommen im Land der Liebe
ihm jetzt zugute.
Denn von seinen Stammesangehörigen wusste er, dass Keira in einem Lager nahe der Grenze zu Ouaha festgehalten wurde.
Ouaha, Arabisch für Oase, war der Name eines unabhängigen Gebietes, das auf der einen Seite an Baraka grenzte und auf der anderen an Algerien.
Viele Sultane und Könige hatten im Verlauf der Geschichte immer wieder versucht, dieses Gebiet ihrem eigenen Land einzuverleiben. Bis vor zwanzig Jahren war Ouaha ein permanent belagertes Land gewesen, aber die wilden und stolzen Berber hatten nie aufgehört, für ihre Freiheit zu kämpfen, sodass Kalens Großvater Sherif Nuri, der damalige Sultan von Baraka und selbst Berber, eingeschritten war und Ouaha seine Unterstützung angeboten und die weitere Unabhängigkeit der Region garantiert hatte.
Sultan Sherifs Hilfe hatte Ouaha gerettet, ihn aber das Leben gekostet. Er war einem Attentat zum Opfer gefallen.
Die Berber vergaßen Sherif Nuris Opfer nie, und Jahre später, als ihre Sicherheit wieder gefährdet war, erkannte das Oberhaupt der Berber die Erben Nuris als Angehörige seines Stammes an. Das war ein strategisch sehr kluger Schachzug.
Zu der Zeit regierte Malik schon als Sultan von Baraka.
Wegen seines Status’ als zweiter Sohn fiel Kalen das Amt des Herrschers zu. Und so wurde Kalen Nuri, Scheich von Baraka, der Sultan von Ouaha.
Doch der Titel des Sultans war nur ein Ehrentitel, der keinerlei Aufgaben mit sich brachte, sondern nur den Besitz der kasbah , einer schönen, sehr gut gesicherten Burganlage an einem Berghang, ein kleines Einkommen und die Loyalität des Volkes bedeutete.
Diese Loyalität schätzte Kalen am meisten, besonders nach dem gescheiterten Anschlag auf Maliks Leben vor fünf Jahren. Wann immer ihnen etwas Entscheidendes zu Ohren kam, erstatteten die Berber Kalen Bericht.
Daher wusste Kalen weit mehr, als irgendjemand sich vorstellen konnte, und verfügte über einen sehr viel größeren Machtbereich, als seine Widersacher ahnten. Ouaha bot ihm Freiraum. In Ouaha konnte er kommen und gehen, ohne dass jemand von ihm Notiz nahm. Und dort flog er jetzt hin.
Am sechsten Tag nach Keiras Ankunft kam eine große Karawane in das vorher so ruhige Lager, das plötzlich von geschäftiger Aktivität erfasst wurde. Durch die Klappe ihres Zelts beobachtete Keira, was draußen vor sich ging. Sie sah viele Kamele und viele Männer.
Dann erfolgten die rituellen Begrüßungen zwischen den Neuankömmlingen und den Männern aus dem Lager. Die Gesprächsfetzen, die Keira auffing, drehten sich ausschließlich um das Thema Kamele, ihren Wert, ihre Persönlichkeit und wie sie die lange Reise überstanden hatten.
Auf einmal erkannte sie ihren Vater, der sich vor einem der Männer verneigte. Die beiden sprachen kurz miteinander, und ihr Vater zeigte auf Keiras Zelt.
Ihr blieb beinahe das Herz stehen.
Das musste entweder der Arzt oder Ahmed Abizhaid sein. Vielleicht waren beide mit der Karawane gekommen.
Voller Furcht ließ sie die Klappe fallen und zog sich wieder in ihr Zelt zurück. Wohin konnte sie gehen? Was konnte sie tun? Es musste einen Ausweg geben …
Die Türklappe wurde zur Seite geschoben. Ihr Vater stand im Eingang und lächelte über das ganze Gesicht. „Er ist angekommen“, verkündete er und zupfte zufrieden an seinem Bart.
„Er?“, flüsterte Keira, während eine Eiseskälte ihren Körper ergriff.
„Der Arzt.“ Sein Lächeln wurde noch breiter. „Und es gibt noch mehr gute Nachrichten. Auch Sidi Abizhaid ist auf dem Weg hierher.“
Keira saß in ihrem Zelt auf einem der niedrigen Schemel aus Leder und Holz und wartete auf den Besuch des Doktors.
In ihrem Kopf schwirrten die unterschiedlichsten Gefühle. Ihr Vater hatte kein Recht zu diesem Schritt. Sie war kein Gegenstand, sondern eine Frau. Ihr Körper gehörte ihr und niemandem sonst.
Diese Untersuchung war eine Verletzung ihrer Privatsphäre. Sie konnte es nicht ertragen, von einem Fremden berührt zuwerden. Aber hatte sie eine Wahl? Wie sollte sie es verhindern?
Und vielleicht war es auch besser so. Vielleicht war es an der Zeit, dass ihr Vater erfuhr, was ihr in jener Nacht vor sieben Jahren zugestoßen war. Zeit, nicht mehr vor ihrer Vergangenheit wegzulaufen.
Plötzlich fühlte Keira sich vollkommen erschöpft. Als wäre sie ewig gerannt, um der Einsamkeit und den Schatten ihrer Kindheit zu entkommen.
Immer hatte sie sich zwischen ihren Eltern und deren gegensätzlicher Kultur hin und her gerissen gefühlt. Äußerlich ähnelte sie
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