Willkommen im sonnigen Tschernobyl
ihnen klar wird, dass Sie sie davon abhalten, sich umzubringen?«, fragte ich.
Ein leichtes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Die Frauen sind normalerweise sehr aufgebracht. Aber die Familie ist dankbar.« Er sagte, viele Studenten würden es versuchen. Nach den Prüfungsergebnissen herrsche hier immer Hochbetrieb. Andere kamen wegen familiären Problemen.
»Bringen die Leute sich um, weil sie nicht heiraten können, wen sie wollen?«, fragte ich.
Er nickte. »Ja. Vieles sind Liebesfälle. Die meisten sind Studenten und Liebende.«
Er starrte auf die Staustufe. Ich fragte, ob er selbst schon mal jemanden verloren hatte. Ohne zu zögern nickte er.
Der entscheidende Moment in Sattars Lebensretterlaufbahn ereignete sich an einem kalten, nebligen Novembermorgen vor fast 15 Jahren. Ein überfüllter Schulbus war von Osten her über die Staustufe gekommen, trotz des Nebels fuhr der Fahrer sehr schnell. »Damals gab es auf der Brücke noch keinen Zaun«, sagte Sattar. Der Fahrer wich einem Sandhaufen auf der Straße aus, verlor die Kontrolle, der Bus geriet ins Schleudern und stürzte unterhalb der Staustufe in den Fluss. Das geschah morgens um Viertel nach sieben.
»Ich sprang sofort ins Wasser«, erzählte Sattar und zeigte auf eine Stelle, gut fünf Meter vom Ufer entfernt. »Drei Boote ka men auch gleich angerast.« Die Männer tauchten immer wieder ins kalte Wasser, zogen Kinder heraus, brachten sie in Sicherheit und gingen wieder hinein, um weitere zu suchen. Bald fanden sie nur noch Leichen.
»Nun, da ich es Ihnen erzähle, sehe ich es wieder vor mir«, sagte Sattar. »Überall, wo wir hinfassten, fanden wir sie. Unter den Sitzen. Ich zog die Leiche eines Jungen heraus und zwei weitere kamen hervor.« Von 130 Kindern im Bus starben knapp dreißig.
Der Wazirabad-Unfall kam groß in den Nachrichten in Delhi und Sattar wurde vom Staat geehrt. Ihm wurde auch Geld versprochen, aber das sei nur Gerede von Politikern gewesen, die großzügig wirken wollten, sagte er. Sie haben ihr Versprechen nie eingelöst.
Aber ihm war das egal. Leben zu retten war ihm Lohn genug. Er erzählte uns von einem Mädchen, das den Unfall überlebt hatte. In einem Fernsehinterview hatte sie gesagt, sie habe ihr Leben Sattar zu verdanken.
»Ich rette viele Menschen«, sagte er. »Daran habe ich mich gewöhnt. Aber als das Mädchen das sagte, war ich sehr gerührt.«
Er schüttelte den Kopf, ganz in Erinnerungen versunken. Nach dem Unfall habe er eine Woche lang gezittert. Der Fluss sei sehr kalt gewesen.
*
Mein ursprünglicher Plan war, mir ein Kanu oder Ruderboot zu organisieren und von Delhi nach Agra auf der Yamuna zu paddeln – eine Strecke, die man normalerweise mit dem Bus fährt. Meine Ankunft bei Taj Mahal zu Wasser – die wahrscheinlich einen Aufruhr unter Vertretern der lokalen Medien verursachen würde – könnte eine völlig neue Touristenroute auftun, möglicherweise die wirtschaftliche Entwicklung entlang des Flusses fördern und der Yamuna-Rettungskampagne neuen Aufwind geben. Gern geschehen.
Aber meine Illusionen lösten sich schnell in Luft auf. Versuchen Sie mal, Kajak in den Gelben Seiten von Delhi nachzuschlagen. Es gab zwar unzählige Wildwasser-Rafting-Unternehmen in den Ausläufern des Himalayas, aber bald war klar, dass ich sie niemals aus den Bergen herausbekommen würde. Dafür fehlte mir das Geld. Außerdem boten sie Wildwasser -, nicht Abwasser -Rafting an. Und dann die ganzen Dämme, Umleitungen und trockenen Abschnitte der Yamuna. Wie will man einen Fluss befahren, der nicht existiert?
Am besten man geht zu Fuß. Ich hatte von einer Yatra gehört, die schon unterwegs war. Yatra ist ein Sanskritausdruck für »Prozession« oder »Reise«, in diesem Fall war es ein langer Protestmarsch einer Gruppe Sadhus – heiliger Männer der Hindus. Sie wanderten einen fast 650 Kilometer langen Teilabschnitt der Yamuna entlang, vom Zusammenfluss von Yamuna und Ganges in Allahabad bis nach Delhi, um gegen die Unfähigkeit der Regierung, die Yamuna zu sanieren zu protestieren. Falls es mir gelänge, den Protestmarsch irgendwo in der Wildnis des Staates Uttar Pradesh zu finden, könnte ich ein paar Tage mitlaufen. Was für ein Glück! Umweltschutz, Spiritualität und eine zünftige Wanderung – und das alles für lau! Wohlwissend, dass ich etwas Hindi an meiner Seite gut gebrauchen konnte, fragte ich Mansi, ob sie mitkommen wolle, und sie willigte sofort ein. Sie ist Fotografin – die sind immer
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