Willkommen im sonnigen Tschernobyl
abenteuerlustig.
Bevor ich Delhi verließ, um flussabwärts zu wandern, ging ich mir die Quelle des Übels ansehen.
Der Najafgarh-Kanal, früher ein natürlicher Fluss, wird heute viel stärker noch als die Yamuna komplett als Abwasserkanal genutzt. Mit einem Durchfluss von fast zweitausend Millionen Liter pro Tag, einschließlich fast vierhundert Tonnen Schwebstoffe – ja, diese Stoffe –, entfällt allein auf den Najafgarh-Kanal beinahe ein Drittel der Verschmutzung des gesamten, fast 1 500 Kilometer langen Flusses. Der Najafgarh-Kanal ist der Ground Zero der Yamuna.
Wir gingen zu Fuß dorthin, liefen im Slalom über eine trubelige Baustelle. Eine neue Autobrücke wurde gebaut, die am Engpass der Straße über der Wazirabad-Staustufe vorbeiführte. Hinter der Baustelle fanden wir eine Fußgängerbrücke über den Abfluss – einige Hundert Meter oberhalb der Stelle, an der er mit der Yamuna zusammenfloss.
Die Fußgängerbrücke war ein breiter Pfad mit Betonbrüstung. Wenn wir über den Rand sahen, konnten wir tief unten das breite Betonbett des Kanals sehen. Eine dunkle Jauche brandete an den Seiten hoch. Der Gestank ließ die Luft vibrieren – ein fauliger, fast salziger Gestank. Abwasser. Fast schien es, als hätte der Gestank mit den eigentlichen Fäkalien nichts zu tun, als konzentriere sich in ihm das, was an Fäkalien so übel riecht.
Ich kannte den Gestank, aber er war noch nie so schlimm gewesen wie an jenem Tag am Najafgarh-Kanal. Es stank so entsetzlich, dass ich eine Gänsehaut bekam und sich der Speichel in meinem Mund sammelte. Der Würgereflex suchte einen Ausweg. Ich versuchte flach zu atmen.
Und dennoch.
Ich blickte wieder über den Rand. Pflanzen wuchsen auf den Betonrändern des Kanals. Grüne, rundköpfige Papageien flogen über das dunkle Wasser. Tauben stolzierten über einen Vorsprung und tauchten hinein. Schmetterlinge flatterten in der Sonne auf.
Flussabwärts sah ich Blumenbänder, die sich in den Kabeln über dem Kanal verfangen hatten, als Menschen sie in den Fluss werfen wollten. Sogar hier brachten die Menschen Opfergaben.
Warum auch nicht? Inmitten des Gestanks und Lärms begriff ich langsam das Grundprinzip. Dies war ein Zufluss der Yamuna. Sollte man ihn etwa nicht verehren, nur weil er stank? Warum nicht das alles anbeten, die Schwebstoffe und so weiter? Welcher Fluss könnte heiliger sein als der, der dem Bauch deines Nachbarn entspringt?
*
Der Tempel von Maan Mandir steht auf einem felsigen Hügel vor der kleinen verwinkelten Stadt Barsana, 120 Kilometer südlich von Delhi. Dort wird Krishna verehrt – keine schlechte Wahl. Krishna tritt auf in der Gestalt eines Kleinkindgottes, eines jungen Schelms, eines Musikers, des perfekten Liebhabers, eines wilden Kriegers und – je nachdem, wen man fragt – einer Inkarnation des höchsten Schöpfers. Mit Krishna bekommt man alles auf einmal.
Maan Mandir ist der Hauptsitz von Shri Ramesh Baba Ji Maharaj. Shri Ramesh Baba Ji – ach, verdammt, ich nenne ihn einfach Shri Baba – war der Guru, der die Yamuna-Yatra angestoßen hatte. Unter der Bedingung, dass ich ihn vorher besuchte, durfte ich an dem Marsch teilnehmen. Ich war nicht gerade ein begeisterter Guru-Besucher und hatte nur widerstrebend eingewilligt. Ich hatte es eilig, mich der Yatra anzuschließen. In meinem Kopf schwirrten Bilder von entrückten hinduistischen Asketen, die von Delhi aus an der Yamuna entlangwanderten – dem sauerstoffarmen, eutrophen Teilstück flussabwärts entlang.
Wir waren nach Braj gekommen, in Krishnas gelobtes Land. Es erstreckt sich über mehrere indische Bundesstaaten und liegt in der Mitte des sogenannten goldenen Dreiecks, das von Delhi, Jaipur und Agra gebildet wird und etwa so groß ist wie ein Hundertstel von Texas. Dort hütete Krishna vor langer Zeit Kühe, stahl Butter und hatte Sex mit Hirtenmädchen.
Braj ist also heiliger Boden, und wenn man bedenkt, dass nahezu jeder Hügel, jeder Teich und jedes Wäldchen dort mit einem Streich oder Flirt Krishnas assoziiert werden, begreift man die Möglichkeiten des Umweltschutzes, die im hinduistischen Glauben schlummern. Manchmal wird die Landschaft von Braj selbst als physischer Ausdruck Krishnas betrachtet. Durch sie hindurch fließt eine seiner Geliebten: die Göttin Yamuna. In den Tempeln von Braj gilt sie als der heiligste aller Flüsse.
Die Frage ist also nicht, weshalb Shri Baba die Yamuna-Yatra ins Leben gerufen hat, sondern weshalb erst so spät. Vielleicht
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