Willkommen im sonnigen Tschernobyl
wütend.
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Fort McMurray liegt in einer Art »Splendid Isolation« zwischen Wäldern und Sümpfen, fast fünfhundert Kilometer nördlich von der Provinzhauptstadt Edmonton entfernt, der nächsten größeren Stadt überhaupt. Wie die meisten Boomstädte verlockt auch Fort McMurray dazu, es als Drecksloch zu bezeich nen, aber sein Streben nach Armseligkeit ist nur halbherzig. Für jede schäbige Ecke, wo die Mieten niedrig sind, gibt es eine saubere, ordentliche. Auf der Franklin Avenue zum Beispiel befindet sich das Oil Sands Hotel. Sein gelbes Schild zieren große, orangefarbene Öltropfen. Eine schmale Leucht schrift verkündet: SCHECKS AKZEPTIERT, GÜNSTIGE ANGEBOTE, FRISCH RENOVIERTE ZIMMER 99,00 $, LOBBY MIT GELDAUTOMAT, STRIPPERINNEN MONTAG – SAMSTAG 16:30–1:00 . Gegenüber, als Gegengewicht, das Rathaus sowie Gebäude der Provinzregierung, gepflegte Ziegelbauten mit der Ausstrahlung von kommunaler Kompetenz. Mit sieben und neun Stockwerken sind sie die höchsten der Stadt. Einen Block weiter befindet sich das Boomtown Casino, in dem die Leute aus Fort McMurray ihr Ölsandgeld in Spielautomaten stecken, und wo selbst dienstags um Mitternacht reger Betrieb herrscht.
Die Innenstadt befindet sich auf einem Landdreieck, wo die Flüsse Athabasca und Clearwater zusammenlaufen und Richtung Norden weiterfließen. Doch Fort McMurray wächst. Am anderen Ufer des Athabasca erstrecken sich Neubaugebiete über die Hügel, dreimal so groß wie die Innenstadt. In den acht Jahren vor der weltweiten Wirtschaftskrise von 2008 verdoppelte sich die Einwohnerzahl der Stadt fast. Wohnraum ist daher extrem knapp in Fort McMurray, und die Preise erreichen eher das Niveau von Toronto als einer völlig abgelegenen Boomstadt. Er ist sogar so knapp und die bei der Ölsandförderung Beschäftigten bleiben nur so kurz dort, dass nahezu ein Viertel aller Einwohner in Lagern der Ölsandkonzerne, also eigentlich gar nicht wirklich in Fort McMurray lebt.
Ich kam an einem Tag mitten im Sommer an, die Sonne schien, kein Wölkchen am Himmel, und es war warm. Ich übernachtete bei Don und Amy, einem freundlichen Paar mittleren Alters, das ich über Freunde kontaktiert hatte. Sie lebten mit ihrem heranwachsenden Sohn in einem zweistöckigen Haus in einer der Neubauvorstädte. Don war groß, nachdenklich und trug Socken zur kurzen Hose. Amy war klein, dunkelhaarig und lebhaft in einer Weise, die sie viel jünger wirken ließ. Sie verbrachten ihre Freizeit mit Wandern und Radfahren, wenn es das Wetter erlaubte. Ein Haus zu besitzen war für sie offenbar gleichbedeutend mit Gastfreundschaft, und obwohl sie keine Ahnung hatten, wer ich war oder was ich dort wollte, stellten sie mir ein eigenes Zimmer im oberen Stockwerk zur Verfügung und ließen mich den Kühlschrank mitbenutzen.
Beide arbeiteten für Ölsandgesellschaften: Amy für Suncor und Don für Syncrude. Das sind die beiden wichtigsten Ölsandförderer Kanadas, die zuverlässig jedes Jahr Milliardengewinne einfahren. Amy gab Seminare für Manager, Don war Ingenieur.
Was, fragten sie, machte ich in Fort McMurray?
Ich wollte nicht sagen, dass ich gekommen war, um zu sehen, wie ausgerechnet die beiden Unternehmen, für die sie arbeiteten, die Welt zugrunde richteten. Es ist ein schon fast krankhaftes Bedürfnis von mir, nicht wie ein totales Arschloch zu erscheinen. Also erzählte ich die lange, gewundene Version, etwas über Umwelt und Industrie und dass ich mir das mal selbst ansehen wollte und –
»Tja«, sagte Amy fröhlich. »Wir arbeiten beide für die dunkle Seite.«
Die dunkle Seite?
Don kratzte sich am Kopf. »Sie haben vielleicht von unserem Entenvorfall gehört.«
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Die Flüsse und Wälder um Fort McMurray boten dem interessierten Besucher jede Menge Gelegenheiten für erquickliche Outdoor-Aktivitäten. Wie es aussah, konnte man dort toll wan dern oder den Fluss mit dem Jet-Ski entlangsausen, und ich bin sicher, es gab auch Elche, die man hätte jagen können. Aber der Umweltverschmutzungstourist kommt ausschließlich wegen des Ölsands nach Fort McMurray.
Für mich war es fast ein Nachhausekommen. Ich bin in Alberta (in der Stadt Calgary) geboren, und obwohl ich mit zwei Jahren von dort wegzog, ist es in meinem Kopf immer ein magischer Ort gewesen – der Ort, aus dem ich stamme. Nun war ich zum ersten Mal wieder in der Provinz und hatte vor, das zu feiern, indem ich mir einen zerrissenen Planeten anschaute.
Ich gebe zu, dass mich eine gewisse Erregung gepackt
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