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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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Schwefelrückstände, für die es keine Verwendung und somit auch keinen Markt gibt. Deshalb wird der feste gelbe Stoff in dicken Scheiben aufeinandergeschichtet. Inzwischen gibt es drei flache babylonische Turmbauten, etwa 15 bis 18 Meter hoch und bis zu fünfhundert Meter breit. Wie alles andere hier, gehören sie wahrscheinlich zu den größten menschengemachten Objekten der Welt – aber ich hatte nie zuvor von ihnen gehört. Schwefelpyramiden sind vermutlich einfach keine Nachricht wert. Sie sind weniger schockierend als ein Erdloch von der Größe einer Stadt, und nur eine sehr entschlossene Ente könnte daran sterben.
    Eines Tages werden Syncrude oder seine Nachfolger erkennen, was für tolle Möglichkeiten diese riesigen – gewaltigen, monumentalen, ungeheuren, gigantischen – Objekte bieten. In Zukunft werden Touristen ihre großen Stufen erklimmen, die aus ihnen herausgehauenen Schwefelhotels bewohnen, gelbe Cocktails schlürfen und die Tennismeisterschaften des Syncrude Open besuchen, bei denen die Spieler blaue Bälle verwenden, damit sie auf dem Schwefelplatz gut zu erkennen sind. Und Tausende von Jahren später werden Entdecker, die sich durch den Dschungel des nördlichen Kameximerikas schlagen, darauf stoßen und überwältigt sein von der Schlichtheit unserer Tempelarchitektur, zugleich roh und grandios, und sie werden darüber spekulieren, wieso wir von allen Elementen ausgerechnet Schwefel verehrt haben, und werden einsehen, dass die Pharaonen keine Ahnung hatten.
    *
    Obwohl die Abbaugebiete in gebührendem Abstand liegen, ist ihre Präsenz überall in Fort McMurray zu spüren. Wirtschaft und Gemeinde trommeln unisono für das endlose Projekt des Erdbodenaufreißens. Beim Schlendern durch die Straßen wird einem irgendwann klar, dass man ein Eisenspan ist, der sich nach den Feldlinien eines riesigen unterirdischen Magneten richtet, und alles und jeder in der Stadt deutet in ein und die selbe Richtung: die neue Brücke über dem Athabasca, die so gebaut wurde, dass sie den Transport von schwerem Gerät aushält; Ampeln, die zur Seite geklappt werden können, damit Schwertransporte ungehindert durchkommen; die örtliche Highschool (Maskottchen: ein Minenarbeiter; Motto »Kumpelstolz«); der ausgediente Bagger auf dem Rasen des Heimatmuseums.
    Man spürt es auch auf der bewaldeten Klippe über dem Fluss, wo die Luft nach dem Bitumen stinkt, das der Berg ausschwitzt. Dort haben vor beinahe einem ganzen Jahrhundert die ersten Unternehmer voller Hoffnung versucht, Geld aus Ölsand zu kochen. Man spürt es im Stadtzentrum, wo sich vor Tim Hortons, dem Fast-Food-Laden, eine Schlange weißer Pick-ups bis zur nächsten Ecke reiht, deren Fahrer sich Kaffee und Donuts holen. In jedem dieser weißen Pick-ups fährt jemand zur Arbeit im Tagebau, und jeder dieser weißen Pick-ups hat an der Ladefläche eine lange, peitschenartige Antenne befestigt, die keine Antenne ist, sondern eine Warnflagge. Ohne sie könnte selbst ein großer Pick-up von den kolossalen Muldenkippern übersehen und zermalmt werden.
    Bis in die Freizeit der Einwohner von Fort McMurray reicht das Echo ihres Industriezweiges: Von der Arbeit mit lauten Maschinen lenken sie sich ab, indem sie mit lauten Maschinen wie Geländewagen und Schneemobilen – sogenannten sleds (Schlitten) – durch die Gegend heitzen.
    »Neunzig Prozent der Menschen hier in Fort McMurray besitzen mindestens einen Geländewagen oder ein Schneemobil«, sagte Colleen, die junge Frau am Empfang beim Geländewagen händler. Sie und ihr Kollege Adam stammten aus Fort McMurray, eine Seltenheit in einer Stadt, die von Auswärtigen, die nur zum Arbeiten kommen, überlaufen ist. Ihre Haltung gegenüber der Heimatstadt war defensive Gleichgültigkeit. Colleen schien den wirtschaftlichen Boom beinahe zu bedauern, der den Ort verwandelt hat. »Die Rezession ist scheiße, aber irgendwie ist sie auch erstaunlich«, sagte sie. »Jetzt kann man in ein Restaurant gehen, ohne drei Stunden warten zu müssen. Man bekommt beim Arzt einen Termin. Früher dauerte es neun Wochen, bis das Auto repariert wurde. Die Lebensqualität war ziemlich niedrig vor der Wirtschaftskrise. Es war ein einziger Kampf.«
    Doch das bedeutete nicht etwa, dass sie etwas gegen Ölsand hatten. »Fort McMurray ist der Motor von ganz Kanada, aber das wird nicht anerkannt«, sagte Colleen und nahm einen kleinen braunen Hund auf den Arm, der ihr um die Füße gesprungen war. »Ich glaube, dieses ganze Gerede vom

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