Willkommen im sonnigen Tschernobyl
hatte, obwohl die für einen feinfühligen, umweltfreundlichen Liberalen angemessene Haltung eher tiefe Besorgnis oder gar blankes Entsetzen hätte sein sollen. Aber ich bin eben auch der Sohn und Enkel von Ingenieuren: intelligente Männer aus Alaska und South Dakota, die allergisch auf Bullshit reagieren, von ihrem Wissen um Straßen, Pipelines und Gestein lebten und davon, die Dinge im Griff zu haben. Und auch wenn ich nur einen Hauch ihres gesunden Menschenverstands geerbt habe, ehre ich sie, wo ich nur kann. Wie sonst lässt sich meine geradezu sentimentale Begeisterung für gigantische Infrastruktur und Industrieanlagen erklären?
Man könnte also sagen, dass ich mit widerstreitenden Gefüh len bezüglich des Ölsands nach Fort McMurray kam, unsicher, wie viel Begeisterung eines Sohnes und falscher Lokalpatriotismus am Schauplatz eines sogenannten Umweltverbrechens angemessen waren. Aber über ganz Kanada könnte man dasselbe sagen. Ich war bloß das lebende Beispiel für die Hassliebe des Landes zu seinen Ressourcen. Der bescheidene Staat im hohen Norden, in dem Greenpeace gegründet wurde, war von seinem eigenen Premierminister als »aufstrebende Energiesupermacht« bezeichnet worden. Tief gespalten bildete Kanada die Speerspitze auf dem Weg ins Zeitalter des schmutzigen Öls und kämpfte zugleich an vorderster Front dagegen.
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Um zu den Zentralen von Suncor und Syncrude zu kommen, fährt man parallel zum Athabasca den Highway 63 entlang, vorbei an kleinen Hügeln mit Nadelhölzern. Etwa vierzig Kilometer von der Stadt entfernt riecht es allmählich nach Teer. Suncors Anlagen sind von der Straße aus nicht zu sehen, Syncrude ist nicht ganz so diskret. Beim Näherkommen verschwin den die Bäume und man fährt lange an einer sandigen Böschung vorbei. Auf der anderen Seite befindet sich eines von Syncrudes Vorzeige-Absetzbecken, ein seichter See mit spiegelglattem Schmutzwasser.
Ich öffnete das Fenster, um die teerige, warme Luft herein zulassen. Dumpfer Kanonendonner zerriss die Stille: das Vogel abschrecksystem, das Syncrude im Frühjahr des vergangenen Jahres etwas zu spät installiert hat.
Hoffen wir mal, dass dieser Lärm für die Enten hilfreich ist oder sie verschreckt. Für mich war schwer zu sagen, woher er kam. Als Ente hätte ich jetzt landen wollen, um mich zu orientieren und herauszufinden, was zum Teufel da los ist. Dann hätte ich auch einen Blick auf die zweite Komponente des Vogelabschrecksystems werfen können: eine dürftige Schar kleiner, flaggenähnlicher Vogelscheuchen am Strand. Einige weitere abgerissene kleine Figuren schwammen auf einsamen Bojen mitten auf dem See.
Der Tagebau selbst war nicht zu sehen, aber auf der Nord seite des Absetzbeckens erhob sich die Aufbereitungsanlage von Syncrude, eine flammenspeiende Kopie von Disneys Zauberschloss aus Stahltürmen und verwinkelten Rohren, verziert mit Abfackelungsflammen und Dampfwolken. Heiß und durchsichtig waberte aus einem Schornstein ein gelber Fleck und zeichnete einen schmalen Streifen in den Himmel.
Ölsande enthalten die feste Erdölart Bitumen. Bis es in eine Raffinerie gegeben werden kann, muss es mehrere Veredelungsstadien in einem Betrieb wie diesem hier durchlaufen. Vor der Aufbereitung muss es allerdings erst einmal vom Sand getrennt werden. Dieser erste Schritt findet im Abbaugebiet statt, wo Sand mit Wasser gemischt und erhitzt wird; so löst sich die Bitumenschicht, die jedes Sandkorn umgibt. Hieran sind zwei Dinge problematisch: der massive Wasserverbrauch – in diesem Fall Wasser aus dem Athabasca-Fluss – und die ungeheuren Mengen an Erdgas, die zum Erhitzen benötigt werden.
Das gewonnene Bitumen wird durch ein Rohr in die Extraktionsanlage geleitet, wo es – wieder unter unglaublichem Ener gieaufwand – eine Reihe von Destillations- und Crackprozessen durchläuft und in kleinere, handlichere Kohlenwasserstoffketten gespalten wird. Das Ergebnis – sogenanntes synthetisches Rohöl – wird in die Raffinerie transportiert, um dann zu Benzin, Kerosin und wiederverschließbaren Plastikbeuteln verarbeitet zu werden.
Ich wandte mich nach links und fuhr in einer Schleife am Haupteingang vorbei, um das Absetzbecken herum und wieder zurück Richtung Stadt. Westlich der Anlage befand sich das Schwefellager; es »Schwefellager« zu nennen ist allerdings so, als würde man von den Pyramiden als »Steinlager« sprechen.
Ein Nebenprodukt des Verarbeitungsprozesses bei Syncrude sind gigantische
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