Willkommen im sonnigen Tschernobyl
verbrennen da alle möglichen schrecklichen Dinge. Und das ganze Zeug geht in den Aquifer.« Sie klang fast stolz, als sie das sagte.
Aber ich war hier nicht dem Krebs auf der Spur. Ich hätte mein gesamtes Leben damit zubringen können, herauszufinden, bis zu welchem Anteil die erhöhte Krebsrate der Stadt real war und wie viel davon bloß Mutmaßungen ausmachten – ganz zu schweigen von den gesundheitlichen Folgen der überall in der Stadt verbreiteten Furcht vor Krebs. Damit sollen sich die Epidemiologen beschäftigen. Mir ging es darum, zu erkennen, wie die südosttexanische Landschaft und Kultur von der Tatsache, seit einem Jahrhundert Schlachtfeld der großen Ölkonzerne zu sein, beeinflusst wurden. Als der Lucas-Gusher sich über die Erde ergoss, wurde eine Art wirtschaftlich-kulturelles Ökosystem geschaffen, das bis heute fortbesteht.
»Möchten Sie vielleicht zum Ball kommen?«, fragte Laura, die Eintrittskarten schon in der Hand.
*
Als ich am nächsten Abend wieder beim Kongresszentrum ankam, hatte es sich in eine lärmende, glitzernde Fantasiewelt verwandelt. Männer in Smokings und Frauen in Abendkleidern strömten schnatternd vorbei. Sie strahlten und brachten eine spürbare Begeisterung für das Vorhaben mit, sich zu betrinken.
Meine Freunde Scott und Lorena waren extra zu diesem Anlass aus Houston hergekommen, und obwohl wir uns richtig herausgeputzt hatten, fielen wir auf. Wie sich zeigte, gab es keine Möglichkeit, in einer Kongresshalle voller Menschen, die als Harlekins und Spielkarten verkleidet sind, nicht aufzufallen. Das Thema des Jahres war »Gesellschaftsspiele«.
Die Treibstoffe der Party waren Bier und Öl. Logos der Sponsoren zierten die Wände des Ballsaals. Budweiser und Bud Light, die Valero Port Arthur Refinery, Total Petrochemicals, BASF , Sabina Petrochemicals – alle Hauptakteure waren vertreten. Sie waren hier, um mit den oberen Zehntausend der Stadt zu feiern, den Erben des Wirtschaftssystems, das auf dem Spindletop begründet wurde. Menschen, die wahrscheinlich nicht in Port Arthur lebten. Tanzmusik hämmerte aus Lautsprechern, die an der Decke hingen. Grüne Laser schossen von der Bühne aus in die Menge, tasteten die zuckenden Tanzflächen im Dunst der Nebelmaschinen ab. Es war schwer, dabei nicht an die »fieberhafte Stimmung« zu denken, die der Daily Enterprise von Beaumont in den ersten Wochen des Jahres 1901 beschrieben hatte. Ich sah mich um, und mein Blick fiel auf eine junge Frau in einem aufwendigen Kleid. Die Karo dame? Dann kreuzte Scott mit drei Aluminiumflaschen Bud Select auf.
»Sie sollten sich auf jeden Fall das Tableau vivant ansehen«, hatte Laura uns geraten. Inzwischen hatte sie begonnen, diese kunstvolle Zeremonie, deren Ursprung wahrscheinlich in präkolumbianischen Menschenopferritualen liegt, und die mittlerweile dazu diente, den sozialen Status der hochrangigen Krewe-Mitglieder festzulegen. Um diesen Status anzuzeigen, erschienen ausgewählte Paare in schrillen Kostümen entsprechend dem Thema des Balls – in diesem Fall Spiele. Nach gebührender Ankündigung paradierten sie dann in kleinen Wagen, gezogen von jungen Männern in weinroten Westen, durch den Ballsaal.
Auftritt des ersten Paares. Ich erinnere mich nicht, ob die beiden als Kniffel oder Craps gingen, nur daran, dass der Mann einen großen, federbestückten Kopfputz und einen funkelnden Paillettenanzug trug und die Frau einen gewaltigen Rüschenblumenkranz. Eines nach dem anderen traten die Paare auf, und jedes Kostüm zeigte entweder ein Brett- oder Kartenspiel oder eine Spielshow. Es dauerte Stunden. Um sie herum wogte die Menge, es war wie ein Aufstand in Abendkleidung, und alle winkten heftig, um die Plastikperlen und kleinen Partygeschenke zu ergattern, die von den Paaren verteilt wurden. Ein Paar nach dem nächsten stieg dann zur Seitenbühne hinauf, wo alle für die Dauer des lebenden Bildes wie gefiederte Halbgötter posierten.
Motiva war auch da. Die bald größte Raffinerie Nordamerikas hatte ein Paar gesponsert, das sich als »Mausefallen«-Brettspiel verkleidet hatte. Das verschlungene Wirrwarr der Raffinerie im Kopf, schien es fast zu gut, um wahr zu sein, dass die von Motiva gesponserte Partykostümierung eine Rube-Goldberg-Maschine darstellte. Das wollte ich aus der Nähe sehen, und ich stand vom Tisch auf. Lady Gaga trommelte gegen meine Brust. Ein Stückchen weiter wirbelten vier Tänzer über die Bühne. Kleine Frisbees mit blinkenden LED s kurvten über der
Weitere Kostenlose Bücher