Willkommen im sonnigen Tschernobyl
Menge. Die Motiva-Königin legte mit einem breiten Lächeln den Kopf in den Nacken. Perlen barsten aus ihrer Hand und füllten die Luft mit Plastikgranatsplittern. Durch den Nebel sah ich die Silhouette eines jungen Mannes mit einem vollendeten Cowboyhut. Sein Profil loderte im Scheinwerferlicht.
Scott und ich entdeckten Laura auf einer der Seitenbühnen. Sie sah völlig anders aus als am Vortag. Da war sie eine kleine, unscheinbare Frau in Jeans und bequemen Schuhen gewesen. Als Glücksrad verkleidet, trug sie nun einen Fiebertraum aus Pailletten und Federn und auf den Schultern ein gigantisches Modell des Rads. Sie war die drei Meter große aztekische Hohe priesterin der TV -Spielshows. Ihr Bein zierte ein Stoffkeil mit dem Wort BANKROTT . Als eine der Ersten, die herausgekommen waren, stand sie nun schon seit über einer Stunde neben einer Gefiederwolke: der Monopolyfrau.
Unter ihrem aufragenden Outfit war Lauras Lächeln zu einer entschlossenen Grimasse gefroren. Ich hatte Angst, sie könnte zusammenbrechen.
»Sie sehen toll aus!«, schrie ich ihr über die Musik hin-weg zu.
»Danke!«, brüllte sie zurück.
»Wie können Sie sich mit diesem Kostüm nur auf den Beinen halten?«
»Es ist viel leichter, als es aussieht!«, flötete sie und nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche.
Das Tableau vivant erreichte seinen Höhepunkt. Lichtstrahlen entluden sich aus einer großen Discokugel. Laser-Einhörner galoppierten über die Rückwand des Ballsaals. Als ein König und eine Königin verkündet wurden, war der Teufel los. Konfettigestöber in der Luft. Eine Polonaise kämpfte sich durch das Chaos. Eine ältere Frau tanzte allein im Kreis, die Arme triumphierend – oder kapitulierend – in die Höhe gereckt.
*
Zwei Jahre nach dem Lucas-Gusher war der Spindletop durch exzessives Bohren ausgetrocknet. Der Rausch war vorbei – oder bewegte sich vielmehr weiter, schwärmte aus zu neuen Ölfunden. Später, in den 1920ern, führte eine neue Explorationswelle zu einem zweiten Boom auf dem Spindletop. In den 1950ern und 1960ern grub man nach Schwefel und Sole, was den Boden großflächig mit einem tiefen geologischen Seufzer einsinken ließ. Der Wald aus Erdölbohrtürmen war schon lange verschwunden, der Ort verlassen. Heute trifft man dort nur auf Sand und Gestrüpp, und stolpert hin und wieder über die Ruinen der vergangenen Ölproduktion.
Im Süden von Beaumont, zwischen dem Highway 287 und der Lamar-Universität, hielt ich Ausschau nach Lucas No. 1. Als ich dort ankam, regnete es. Auf einem weitläufigen, durchweichten Rasen stand einsam ein steinerner Obelisk. Ich las die Gravur im Sockel:
AN DIESER STELLE BEGANN
AM ZEHNTEN TAG
DES ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERTS
EINE NEUE ÄRA
DER ZIVILISATION
Jemand sollte eine Fußnote eingravieren, denn das war nicht der Ort, an dem alles geschah. Man hatte den Obelisk vom Originalschauplatz weggeholt, als dort der Boden nachgab. Dies hier war bloß der Rasen vor dem Spindletop-Gladys City Boomtown Museum.
Das Museum ist ansonsten aber nicht schlecht. Man hat dort ein Dorf aus der Zeit des Ölbooms nachgebaut, und neben dem Obelisk steht der originalgetreue Nachbau des Lucas- No.-1-Bohrturms mit einer großen Düse wie von einem Feuer wehrschlauch. Für hundert Dollar, so sagte man mir, kann sie angestellt werden und dann spritzt Wasser mit demselben Druck und in derselben Höhe heraus wie beim Original-Lucas-Gusher. Ölfirmen bringen manchmal neue Mitarbeiter zum Feiern her.
Der echte Lucas-Gusher befand sich gut anderthalb Kilometer entfernt auf Privatgelände. Das Spindletop-Ölfeld wurde als nationales historisches Wahrzeichen gekennzeichnet, allerdings war dort Unbefugtes Betreten verboten.
*
Das Öl, das einst vom Spindletop geliefert wurde, kommt nun von entfernteren Ölfeldern, von Ölbohrinseln im Golf von Mexiko oder wird mit Tankern aus dem Ausland importiert. Eines Tages fließt es vielleicht durch die Pipeline aus Alberta herunter. Auf jeden Fall sind Port Arthurs brummende Raffinerien weniger an die Menschen vor ihrer Haustür gebunden als an ferne Quellen.
Doch im südöstlichen Texas unterhält das Öl nicht nur die Raffinerien, sondern auch eine ganze Reihe kleinerer Akteure. Sie alle scharen sich um diese Oase des Wohlstands und konkurrieren miteinander, leben von Macht und Erfolg des Öls – und sogar von seinen Katastrophen.
Am 23. Januar 2010 fuhr der Öltanker Eagle Otome in den Sabine-Neches-Kanal von Port Arthur ein. Er hatte 570 000
Weitere Kostenlose Bücher