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Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Anton
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würde es vorläufig keine Fans mehr geben.
    Das Radio war zu einem Lebewesen geworden, verkörperte eine Geschichte, erzählte von Phils geschickten Händen, erzählte von seiner einmaligen Zusammensetzung, von seiner Authentizität. Über dieses Radio waren die Nachrichten über die Watergate-Affäre zuerst an Phils Ohren gedrungen. Über dieses Radio hatte Nixon seine Rechtfertigungsreden verbreitet. Die Zeit wurde in dem Radio fühlbar. Man mochte bald wieder an eine einzige, objektive Welt glauben.
    Die Zuschauer bemühten sich, die komplizierte Musik, Ton für Ton, anders als der Komponist es beabsichtigt hatte, auszuschlachten und den Tönen, in der Zusammensetzung, ihre eigenen Gefühle unterzuschieben. Die Interpretation von Musik lief auf Hochtouren. Das Radio plärrte ohne jeden Sinn und Verstand. Es war eine Schöpfung Phils und es war ihm gleichgültig. Es liebte kleine Räume.
    Die Zuschauer assoziierten einzelne Worte, Namen, Dinge, Lautfolgen, abgestandene Zeichen: Stockhausen, Kagel, Cage, Ives. Die Namen klangen nach nichts. Sie kamen aus der Sprache heraus. Ihre Bedeutung schien willkürlich. Jemand murmelte etwas von einem event in jener ausgeleierten Sprache, mit der bildende Künstler Philosophie aus ihren Artefakten hervorzwingen wollen. Aber es passierte noch immer nichts.
    Als ob es Aufgabe der Musik und der Sprache wäre, etwas zu bedeuten. Die Zeit freute sich, sich in solch eigenen Tönen selbst zu begegnen, sie atmete mit den Tonfolgen, schoß hoch hinaus ins Weltall und stürzte kreischend (jener kleine Rattenschrei), voller Schmerzen, von der kargen Decke herunter und den Zuschauern, die zu Zuhörern geworden waren, direkt in die Ohrmuscheln. Das Radio war ein Simulakrum. In Wirklichkeit verdeckte es eine Teekanne aus gebranntem Ton, in der eine kleine Urne stand, die die Asche jener einzigen Ratte barg, die Philip einmal ermordet hatte, ohne daß er diese grauenvolle Untat je würde vergessen können. Das Schreien der Ratte strukturierte in der Vergangenheit seine Romane. Jetzt, wo die Anzahl der Romane immer geringer wurde, spielte es bald keine Rolle mehr.
    Phil und Palmer Eldrich saßen unter den Zuschauern und lauschten der Musik. Wir werden überflutet, dachten sie. Wir sind in einen Raum gefüllt, erfolgreich im Auferstehen von den Toten, aufgebläht von profanen Aposteln, die unser Sein vermarkten, es in Dosen füllen, in Scheiben rillen und damit Geld machen. Wir blühen einige Jahre, dann kräht kein Hahn mehr nach uns in Golgatha. Die Dogmatik der Kunst und der Wirklichkeit. Nixons Schnüfflerbanden; sie werden ein Terrorregime errichten und sich auf uns berufen. Europa ist längst zu einem Museum geworden, die neue Welt veraltet, die Zukunft gehört den Eskimos – sie sind an eisige Zeiten gewöhnt.
    Palmer Eldrich hörte in Wirklichkeit nichts von der Musik, weil er gesichtslos war. Sein Kopf starrte wie ein einziges flaches Auge auf die ihm gegenüberliegende Wand. Wahrscheinlich suchte er eine Stromquelle, um seine Akkus aufzuladen. Er brauchte einen Stromstoß. Den Schauspieler fröstelte unter dem Gewirr von Masken, Prothesen und elektronischem Geschirr, in dem sein kleiner Körper sich verlor. Es handelte sich um einen winzigen Menschen. Er spürte allein die machtvollen Baßtöne unter seinen Füßen. Die Erde bebte. Er schwitzte.
    Vier der behelmten Sicherheitsbeamten, oder waren es doch nur ausgeliehene Rocker, wie sie bei großen Open-air-festivals anzutreffen sind, brutale Schlägertypen mit Eisenketten und Lederhosen, stampften durch die Halle und gingen auf den Tisch zu. Einer von ihnen nahm seinen Helm ab, und ein gradnasiges Gesicht kam unter dem kurzen Haarschnitt zum Vorschein. Das Gesicht wirkte nicht unintelligent. Man konnte zur Not einen qualifizierten Sicherheitsbeamten dahinter vermuten.
    »Wir vom FBI haben die Information bekommen, daß dieser Dick mit schwarzen Terroristen, vermutlich Black Muslims, Kontakt hat. Er kennt Kommunisten aus seiner Berkeley-Zeit. In Berkeley wurde er relegiert, ein unzuverlässiger Mensch. Laut einem Interview, welches er in einem Musikmagazin gegeben hat, will er einen Roman über die Polizeiarbeit und über die Watergate-Affäre schreiben. Vermutlich hat er das Machwerk schon fertig. Ein Senator hat uns in Bewegung gesetzt. Wir müssen das Manuskript finden, Leute. Strengt euch also an. Es müßte hier irgendwo sein.«
    »Wem erzählst du das?« maulte einer der Uniformierten.
    »Na, dem Publikum

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