Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Anton
Vom Netzwerk:
aber auch unnötig, Erstaunen zu heucheln. Im Aztekensaal sah er direkt neben dem Kalenderstein eine riesige Marmorskulptur, die ihm bei seinem gestrigen Besuch nicht aufgefallen war, und dann fand er noch einen Satz erstaunlicher kleiner Olmecfigürchen aus poliertem Jade, die er auch noch nicht gesehen hatte. Auch der Mayasaal schien gänzlich anders eingerichtet zu sein. Hilgard konnte das alles nicht begreifen. Sogar der große, schirmförmige Springbrunnen im Hof des Museums schien irgendwie verändert auszusehen, denn nun ragten goldene Dornen aus dem Sockel heraus. Der angehäufte Effekt aller Seltsamkeiten des Tages bewirkte, daß er sich benommen, fast fiebrig fühlte. Celia fragte ihn mehrmals, ob er krank sei.
    Abends aßen sie in einem kleinen Lokal, wenige Blocks vom Hotel entfernt, im Freien, worauf sie noch lange spazierengingen und erst kurz vor Mitternacht ins Hotel zurückkehrten. Während sie sich auszogen spürte Hilgard neue Unsicherheiten. Erwartete sie nun, daß er mit ihr schlief? Der Gedanke bereitete ihm Entsetzen. Nicht daß sie unattraktiv gewesen wäre, ganz im Gegenteil. Aber er war noch nie imstande gewesen, mit völlig Fremden ins Bett zu gehen. Eine lange Freundschaft, ein Gefühl der Geborgenheit beim anderen, Nähe und wahre Liebe – das zog er vor, ja, das brauchte er sogar. Aber ganz davon abgesehen, wie konnte er denn überzeugend vorgeben, der Mann dieser Frau zu sein? Keine zwei Männer verhalten sich in der Liebe gleich. Sie würde schon nach zwei Minuten bemerken, daß er ein Fremder war, oder sie würde sich fragen, was in ihm vorging. All die sexuellen Rituale und Gepflogenheiten, die lange verheiratete Paare entwickeln, waren ihm unbekannt. Sie wäre verwirrt, verärgert und möglicherweise sogar geängstigt, wenn er völlige Unwissenheit ihrer Körpermechanismen zur Schau stellte. Und solange er nicht mit Bestimmtheit wußte, was mit ihm geschehen war, entsetzte ihn der Gedanke, sein Gefühl der Losgelöstheit von dem zu verraten, was er immer noch als sein wahres Leben betrachtete.
    Glücklicherweise schien sie nicht in amouröser Stimmung zu sein. Sie gab ihm rasch einen Kuß, eine freundschaftliche Umarmung, dann rollte sie sich auf die Seite und preßte ihren Körper gegen seinen. Er aber lag noch lange wach, lauschte ihrem Atem und kam sich dabei wie ein Ehebrecher vor, mit einer unbekannten Frau im Bett zu liegen. Und doch war sie Mrs. Ted Hilgard, wie er es auch drehte und wendete …
    Er verwarf die Theorie des Schlages. Sie ließ zu vieles ungeklärt. Plötzlicher Irrsinn? Aber er fühlte sich nicht verrückt. Die Ereignisse um ihn herum waren verrückt, aber in seinem Gehirn schien er immer noch ruhig, ordentlich und präzise. Sicher war echter Wahnsinn doch wilder und chaotischer. Aber wenn sein Gehirn nicht geschädigt und er nicht das Opfer einer allumfassenden Illusion geworden war, was war dann geschehen? Es war, als hätte sich ihm bei Teotihuacan eine Pforte zwischen zwei Welten geöffnet, dachte er, und in dem kurzen Augenblick der Benommenheit war er in das andere Ted-Hilgard-Universum übergewechselt, während dieser andere Hilgard an ihm vorbei in seine Welt gestolpert war. Das klang unglaublich. Aber was ihm widerfuhr, das war schließlich auch unglaublich.
    Am Morgen sagte Celia: »Ich habe jetzt eine Lösung des Streites in Sachen Cuernavaca gegen Guadalajara gefunden. Fahren wir statt dessen nach Oaxaca weiter.«
    »Herrlich!« rief Hilgard. »Ich liebe Oaxaca. Wir sollten im Presidente Convento anrufen, ob sie noch Zimmer haben … das ist so ein schönes Hotel, von einem alten Hof umgeben …«
    Sie sah ihn seltsam an. »Wann warst du denn in Oaxaca, Ted?«
    Zögernd antwortete er: »Äh … nun … ich schätze … das ist schon lange her, bevor wir heirateten …«
    »Ich dachte, dies wäre deine erste Mexikoreise.«
    »Habe ich das gesagt?« Seine Wangen wurden rot. »Ich weiß gar nicht, wo ich mit meinen Gedanken war. Ich habe wahrscheinlich gemeint, daß dies unsere erste Mexikoreise ist. Ich meine, ich erinnere mich kaum noch an die Reise nach Oaxaca, die muß schon Jahre zurückliegen, aber einmal war ich dort, nur übers Wochenende …«
    Das alles hörte sich schrecklich lahm an. Eine Reise nach Oaxaca, an die er sich kaum erinnerte, und doch war er bei der Erinnerung an ein bestimmtes Hotel förmlich aufgeblüht? Kaum vorstellbar. Auch Celia war der Widerspruch aufgefallen, aber sie zog es vor, nicht näher darauf einzugehen. Dafür

Weitere Kostenlose Bücher