Willkommen in der Wirklichkeit
Sie meinem Mann, er soll sich ein Weilchen gedulden. Ich mache noch Aufnahmen von der Pyramide, nur noch ein paar Minuten.‹ Und …«
»Ich wohne im Hotel Presidente«, sagte Hilgard. »Und ich bin nicht verheiratet. Ich bin heute morgen mit einem schwarzen Ford hergebracht worden. Der Name des Fahrers war Chucho.«
Das ernste und höfliche Grinsen verschwand nicht vom Gesicht des Mexikaners, aber es wurde verzerrter, und gleichzeitig bekamen seine Augen einen etwas feindseligen Blick, als wäre er das Opfer einer ihm unverständlichen Gringoposse. Langsam sagte er: »Ja, ich kenne Chucho. Er hat heute morgen einige Amerikaner nach Xochimilco gebracht. Vielleicht war er gestern Ihr Fahrer.«
»Er hat mich vor dem Presidente abgeholt. Wir hatten es letzte Nacht ausgemacht. Sein Lohn betrug siebzehnhundert Pesos.« Hilgard schaute sich um und wünschte, der Mann würde sich sehen lassen, ehe die Lage noch verworrener wurde. »Sie scheinen mich mit einem anderen Amerikaner zu verwechseln. Ich reise allein. Ich hätte zwar nichts dagegen, eine interessante Blondine kennenzulernen, aber leider bin ich nicht mit einer verheiratet, und ich bin ganz sicher, daß Sie nicht der Fahrer sind, der mich heute morgen mitgenommen hat. Es tut mir sehr leid, wenn …«
»Dort kommt Ihre Frau, Señor«, sagte der Mexikaner kühl.
Hilgard wandte sich um. Eine schlanke, attraktive Frau in den späten Dreißigern, mit kurzem, goldenem Haar und einem offenen Gesicht, bahnte sich einen Weg zwischen den Souvenirständen am Eingang zum Parkplatz hindurch. »Ted!« rief sie. »Hier bin ich!«
Er starrte sie verständnislos an. Er hatte sie noch nie vorher gesehen. Während sie näher kam, verzog er das Gesicht zu einem starren Lächeln, das er beibehielt. Aber was sollte er zu ihr sagen? Er wußte ja nicht einmal ihren Namen. Entschuldigen Sie bitte, Ma’am, ich bin eigentlich gar nicht Ihr Mann. Wie? Gab es ein Fernsehprogramm, fragte er sich, das sich zur allgemeinen Gaudi so ausgedehnte Scherze mit ahnungslosen, hilflosen Opfern erlaubte, und stand er gerade im Mittelpunkt einer solchen Episode? Würden sie ihn mit Heimgeräten und Flugtickets überschütten, wenn sie seiner Verlegenheit ein Ende machten? Tut mir leid, Ma’am, aber ich bin in Wirklichkeit gar nicht Ted Hilgard. Ich bin jemand anders mit demselben Namen und Gesicht. Ja? Nein.
Sie kam zu ihm her und sagte: »Du hättest mit mir hochkommen sollen. Weißt du, was sie in der letzten halben Stunde da oben getan haben? Sie feiern das Frühlingsäquinoktium mit einem aztekischen Ritus. Weihrauch, Gesang, grüne Zweige, zwei weiße Schwäne in einem Käfig, die sie gerade befreit haben. Sehr faszinierend, und ich konnte alles aufnehmen. Kannst du das mal einen Augenblick für mich halten, ja?« fragte sie beiläufig und reichte ihm ihre schwere Kameratasche. »Großer Gott, das ist heiß heute! Hat dir der andere Tempel gefallen? Mir war einfach nicht danach zumute, auch noch dorthin zu gehen, ich hoffe nur, daß ich nichts versäumt …«
Der Fahrer, der immer noch daneben stand, sagte leise: »Es wird spät, Mrs. Fahren wir nun in die Stadt zurück?«
»Ja. Natürlich.« Sie stopfte einen vorwitzigen Blusenzipfel in die Hose zurück, nahm Hilgard die Kameratasche wieder ab und folgte dem Fahrer zum Volkswagen. Hilgard blieb wie angewurzelt stehen und suchte den Parkplatz hilflos nach Chucho und dem alten Ford ab, während er seine weitere Vorgehensweise überdachte. Nach einem Augenblick drehte die blonde Frau sich stirnrunzelnd um. »Ted! Was ist denn los?« erkundigte sie sich.
Er gab einen unartikulierten Laut von sich und machte mit den Händen eine Geste der Verwirrung. Wahrscheinlich, sagte er sich, hatte er eine Art psychotischer Sinnestäuschung. Oder, andere Möglichkeit, dieser Augenblick der Benommenheit am Tempel von Quetzalcoatl war wirklich ein leichter Hitzschlag gewesen, der ihm einen Teil seiner Erinnerungen genommen hatte. Konnte sie wirklich seine Frau sein? Er war ganz sicher, daß er sein ganzes Leben lang allein gewesen war, abgesehen von den acht Monaten mit Beverly, aber das lag schon ein Dutzend Jahre zurück. Er hatte seine Junggesellenwohnung in der Third Avenue deutlich vor Augen: drei kleine Zimmer, Bilder, eine kleine Sammlung vorkolumbischer Statuetten. Er sah sich mit seinen zahlreichen Geliebten in seinen bevorzugten Restaurants, mit Judith oder Janet oder Denise. Diese große blonde Frau konnte er allerdings nirgends unterbringen.
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