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Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Anton
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seine Fahrt mit einer Kennmünze bezahlen mußte, ob das Metropolitan Museum noch dort war, wo er es in Erinnerung hatte, und schließlich dachte er an Judith. Das Busproblem konnte er ohne Schwierigkeiten lösen. Der graue Bulk des Museums erhob sich immer noch über der Flanke des Central Park. Die Upper Fifth Avenue sah mehr oder weniger unverändert aus, das Gebäude der Frick Collection so würdevoll wie eh und je und die Guggenheimspirale so merkwürdig wie immer. Und auch Judith war unverändert: elegant, wunderschön, warm, und in ihren Augen glomm der Funke der Intelligenz. Was fehlte war das verschwörerische Funkeln, die kaum merkliche Aura geteilter Geheimnisse, die darauf hindeutete, daß sie einander schon lange liebten. Sie begrüßte ihn als Freund, mehr nicht.
    »Was ist nur mit dir geschehen, um Himmels willen?« fragte sie.
    Er lächelte schuldbewußt. »Ich scheine von einem Augenblick zum anderen einen völligen Identitätswechsel durchgemacht zu haben. Ich war Besitzer einer Kunstgalerie im Block von Bloomingdales. Jetzt bin ich ein verheirateter Mann mit einer Marktforschungsgesellschaft in der 57th Street. Und so weiter. Ein Schwindelanfall bei den Ruinen von Teotihuacan, und plötzlich steht mein ganzes Leben auf dem Kopf.«
    »Kannst du dich nicht mehr an Celia erinnern?«
    »Es ist nicht einfach nur Amnesie, falls du darauf hinausmöchtest. Ich erinnere mich weder an Celia noch an sonst etwas, das mit meinem hiesigen Leben zu tun hat. Aber ich erinnere mich ausgezeichnet an eine Million anderer Kleinigkeiten, die hier nicht mehr zu existieren scheinen, eine vollständige Substruktur der Realität: Telefonnummern, Adressen, biographische Einzelheiten. An dich zum Beispiel. Die Judith, die ich kenne, arbeitet an der Rockefeller University. Sie ist nicht verheiratet und lebt in 382 East 61st Street. Ihre Telefonnummer ist … verstehst du, was ich sagen möchte? Es könnte sein, daß du das einzige Verbindungsglied mit meinem alten Leben bist. Irgendwie kenne ich dich in beiden Realitäten. Rechne dir mal die Wahrscheinlichkeit aus, die dagegen spricht.«
    Judith betrachtete ihn mit aufrichtiger, ehrlicher Sorge. »Wir werden gleich eine vollständige Reihe neurologischer Tests durchführen. Hört sich nach dem ausgefallensten geistigen Kurzschluß an, der mir je untergekommen ist, obwohl ich wahrscheinlich einige ähnliche Fälle in der Fachliteratur nachschlagen könnte. Menschen, die plötzliche Dissoziativreaktionen erlebten, was zu einer völligen Umschichtung der Persönlichkeitsstruktur führte.«
    »Du redest von einer Art schizoider Spaltung, ja?«
    »Ausdrücke wie Schizophrenie oder Paranoia werden heute nicht mehr besonders häufig verwendet, Ted. Sie wurden durch populäre Fehlauslegungen in den Schmutz gezogen, und außerdem sind sie nicht exakt zutreffend. Wir wissen heute, daß das Gehirn ein außerordentlich kompliziertes Instrument ist, dessen Fähigkeiten sich unserem rationalen Verständnis entziehen … ich spreche unter anderem von so ausgefallenen Begabungen wie zehnstellige Zahlen im Kopf multiplizieren zu können, und es ist durchaus möglich, daß es auch eine perfekt stimmende Surrogatidentität erzeugen kann, wenn es dem entsprechenden Stimulus ausgesetzt wird, und die …«
    »Mit einfachen Worten ausgedrückt, ich bin verrückt.«
    »Wenn du es so einfach wie möglich haben willst: Du leidest einfach an Illusionen einer besonders lebhaften Art.«
    Hilgard nickte. »Zu diesen Illusionen gehört auch, das solltest du immerhin wissen, daß wir beide in den zurückliegenden vier Jahren Geliebte waren.«
    Sie lächelte. »Das überrascht mich nicht. Du flirtest schon seit dem Augenblick, als wir uns kennenlernten, immer ein wenig mit mir herum.«
    »Waren wir jemals zusammen im Bett?«
    »Natürlich nicht, Ted.«
    »Habe ich dich je nackt gesehen?«
    »Nur dann, wenn du mir nachspioniert hast.«
    Er fragte sich, wie sehr sich diese Judy von seiner unterscheiden mochte. Er ging das Risiko ein und sagte: »Woher weiß ich dann, daß du eine kleine Operationsnarbe auf der linken Brust hast?«
    Sie antwortete achselzuckend. »Ich mußte vor Jahren eine gutartige Geschwulst entfernen lassen. Das könnte Celia dir erzählt haben.«
    »Würde ich dann auch wissen, an welcher Brust?«
    »Schon möglich.«
    »Ich kann dir noch sechs oder sieben andere Merkmale deines Körpers nennen, die nur jemand wissen kann, der sehr vertraut mit ihm ist. Ich kann dir sogar sagen, welches

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