Willkommen in der Wirklichkeit
Alten vollends begriffen. »Sie haben … was?« Er fühlte, wie seine Knie nachgaben.
»Nach dem Arzt geschickt.«
»Nach welchem?« keuchte Kendrick.
»Wir haben nur einen in Pine County. Eine ziemliche Kapazität. Erst letzte Woche war er noch als Gastredner auf einem medizinischen Kongreß. Und er arbeitet zweimal die Woche in einer Gemeinschaftspraxis in San Francisco.«
Kendrick nickte grimmig. »Ich weiß. Sie meinen Dr. Kendrick, nicht wahr?«
»Natürlich.« Der Aufseher verzog keine Miene. Entweder war er nicht informiert über das, was Kendrick zugestoßen war, oder er verstellte sich mit einem phantastischen schauspielerischen Talent, mit dem er für diese Schmierenkomödie eine glatte Überbesetzung war.
»Aber ich bin Dr. Kendrick!« schrie Kendrick. »Warum glauben Sie mir nicht? Hat sich denn alles gegen mich verschworen? Ich bin es! Ich! Ich!«
Aus dem dunklen Gang erklang ein schüchternes Räuspern. »Das kann wohl schlecht möglich sein«, sagte ein großer, schwarzhaariger Mann mit einem scharfgeschnittenen Gesicht. Er trug eine dunkle Arzttasche in der Hand.
»Wer sind Sie?« In Kendrick krampfte sich alles zusammen.
»Ich bin Dr. Kendrick«, entgegnete der Mann mit stoischer Ruhe. »Mir scheint, Sie sind ein wenig durcheinander, Sir. Sie haben einen Schlag auf den Kopf abbekommen, sagte man mir.«
Kendrick musterte den Fremden mit offenem Mund. Er kannte ihn nicht, hatte ihn nie im Leben zuvor gesehen. Der Mann war ihm völlig fremd.
Der Aufseher öffnete die Gittertür und ließ den Schwarzhaarigen eintreten. »Glauben Sie, daß es daran liegt, Doktor?« fragte er den angeblichen Dr. Kendrick neugierig. Dabei ließ er den echten keine Sekunde aus den Augen. Offenbar hielt er ihn für einen gefährlichen Irren und rechnete jede Sekunde mit einem Angriff.
»Hören Sie«, sagte Kendrick. Er zwang sich zur Ruhe und wiederholte seine Geschichte. »Ich bin der einzig wirkliche Dr. Kendrick«, schloß er.
»Natürlich«, sagte der angebliche Arzt. »Regen Sie sich nicht unnötig auf.« Er öffnete die Tasche und zog eine Spritze auf. Dabei warf er dem Aufseher einen Blick zu, der Bände sprach. »Ich werde Ihnen jetzt ein Beruhigungsmittel geben, und dann …«
Kendrick wich zurück. »Bleiben Sie mir mit der Spritze vom Leib.« Verzweifelt suchte er nach einer Fluchtmöglichkeit.
»Keine Angst, ich habe nicht vor, Sie zu ermorden«, erwiderte der falsche Dr. Kendrick.
Kendrick hob die Fäuste zur Abwehr.
»Dann nicht.« Der falsche Arzt zuckte resigniert die Achseln. Er wirkte keineswegs unsympathisch und spielte seine Rolle ausgezeichnet. »Niemand will Sie hier zu etwas zwingen.«
»Gehen Sie zum Teufel«, schnauzte Kendrick. »Ich will hier raus.«
»Tut mir leid«, sagte der Aufseher. »Aber wenn Sie Hunger haben, bringe ich Ihnen gern etwas zum Abendessen.«
»Danke. Unter solchen Umständen vergeht einem der Appetit. Was haben Sie mit mir vor? Wir sind unter uns, also reden Sie Klartext. Sie brauchen sich nicht zu verstellen.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, entgegnete der Aufseher zögernd. »Ich habe nichts damit zu tun. Der Bezirksrichter wird morgen über Ihren Fall entscheiden.«
»Über meinen Fall?« Kendrick warf einen flehentlichen Blick zum Himmel. Nur ruhig, sagte er sich. »Wie spät ist es jetzt?«
»Warum fragen Sie?« Der Aufseher deutete auf seinen Arm. »Sie haben doch selbst eine Uhr!«
Kendrick hob die Hand. Der Sekundenzeiger bewegte sich langsam und gleichmäßig. Die Uhr funktionierte also wieder. »Kurz nach acht«, murmelte er verwundert. Erst jetzt verstand er, was der Aufseher mit »Abendessen« gemeint hatte.
Irgend etwas stimmte mit der Zeit nicht! Er hatte den Eindruck, höchstens eine Stunde hier in der Zelle verbracht zu haben, und laut seiner Uhr waren es mindestens acht.
»Zwanzig Uhr?« fragte er.
»Natürlich«, erwiderte der falsche Kendrick. »Wäre es nicht doch besser, Sie würden sich von mir untersuchen lassen?«
»Nein!« schrie Kendrick auf. »Verschwinden Sie endlich! Diese elende Komödie wird mich nicht in den Wahnsinn treiben!«
Der falsche Arzt ergriff den Aufseher am Jackenärmel und zog ihn mit sich hinaus. Die Tür fiel ins Schloß, und Kendrick war allein. Er legte sich auf die Pritsche und verschränkte die Arme unter dem Kopf.
Der Lysol-Geruch wurde noch stärker.
Kendrick setzte sich wieder auf die Pritsche und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er erinnerte sich an einen uralten Film, den er einmal
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