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Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Anton
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gesehen hatte. Darin fand eine ausländische Touristin nach einem Ausflug ihre Mutter in ihrem Pariser Hotel nicht mehr vor, und alle Angestellten des Hotels berichteten der herbeigerufenen Polizei übereinstimmend, die Frau sei allein und ohne Mutter bei ihnen abgestiegen. Man hatte sogar alle Spuren verwischt, ein neues Gästebuch angelegt und alle Eintragungen nachträglich gefälscht. Des Rätsels Lösung war ungeheuerlich: Nicht nur das gesamte Hotelpersonal war in den Skandal verwickelt, sondern auch der gesamte Pariser Polizeiapparat und die französische Regierung: Die Mutter der Frau hatte die Pest nach Frankreich eingeschleppt, und um eine Panik zu verhindern (es war gerade Weltausstellung), hatte man sie verschwinden lassen. [3]
    Kendrick knirschte mit den Zähnen. Er konnte weder mit einer pestkranken Tochter dienen, noch hatte er etwas Adäquates anzubieten. Aber er zweifelte jetzt nicht mehr daran, daß hinter diesen Seltsamkeiten weit mehr Personen steckten als nur die Obrigkeit von Pine County.
    »Psst!« Ein Flüstern unterbrach seine Gedankengänge. Er sprang auf und lauschte. Das Geräusch war aus dem Zellengang gekommen …
    Ein ihm unbekannter Mann trat aus den Schatten vor die Gitterstäbe und grinste ihm plump-vertraulich zu. »Höchste Zeit, daß ich dich hier heraushole, Kamerad. Aber du kannst dich auf die NBB verlassen!«
    Kendrick schluckte. Er verstand keine Silbe vom Sinn dessen, was der Fremde gesagt hatte, doch wenn er aus dieser Zelle herauskommen wollte, mußte er das Spiel mitspielen. »Klar«, flüsterte er. »Aber die Gitter …«
    »Kein Problem.« Der Fremde kicherte, zog den Schlüsselbund hervor und hantierte an der Zellentür herum. »Ich hatte keine andere Wahl«, nuschelte er. »Der alte Knabe wollte mich aufhalten.«
    Quietschend ging die Tür auf, und Kendrick folgte dem Fremden auf den Gang. Hatte er ihn richtig verstanden? Hatte der Mann, der ihn aus unerfindlichen Gründen befreien wollte, dafür einen Menschen getötet?
    Er fühlte, wie ihm schlecht wurde.
    Kendrick musterte den Fremden genauer. Langes, verfilztes Haar, ein hageres, eingefallenes Gesicht, das im Halbdunkel unheimliche Züge besaß, eine magere Gestalt mit fließenden Bewegungen. Erst als Kendrick die Augen zusammenkniff, sah er, wie die Hose des Mannes schlotterte und die Jacke sich aufblähte wie ein Ballon. Einige Knöpfe rissen und klirrten zu Boden. Der Mann fuhr herum, und sein Gesicht zerfloß, schmolz wie erhitztes Wachs. Zurück blieb ein Totenschädel, eine leere Knochenhöhle, die ihn angrinste. Im rechten Auge war ein Spinnennetz.
    Langsam, wie im Zeitlupentempo, zerfiel der Körper, wurde durchsichtig und zerfloß zu einer eitriggelben, übelriechenden Masse auf dem Fußboden.
    Kendrick riß die Hand vors Gesicht und schrie laut auf. Die Tür zum Büro des Sheriffs wurde aufgestoßen, und der Aufseher taumelte herein. Ein fahler Lichtfinger senkte sich auf seine Konturen im Halbdunkel. Der Kopf des Alten war in der Mitte gespalten; Blut sprudelte aus dem zu einem lautlosen Schrei aufgerissenen Mund. Der Körper des Mannes überzog sich mit grünen Blasen, die alle zugleich aufplatzten und eine brennende Flüssigkeit über Kendrick sprühten.
    Die Welt um Kendrick wurde schwarz. Er merkte nicht einmal, wie er zu Boden sank.
     
    Wehende Schleier, wie von Geisterhänden bewegt, zogen an seinen Augen vorbei, und dumpfe Geräusche drangen an seine Ohren, Geräusche, die ihm vertraut vorkamen … hektische, aber durch die Erfahrung gedämpfte Betriebsamkeit, die stetigen Geräusche von technischen Geräten, zahlreiche Schritte, unverständliche Gespräche.
    Und ein alles durchdringender Geruch nach Lysol.
    Mühsam öffnete Kendrick die Augen. Ein weißgekleideter Mann stand, ins Riesenhafte verzerrt, über ihn gebeugt.
    Nur langsam klärte sich Kendricks Blick. Als sich die roten Schleier auflösten, versuchte er sich aufzusetzen, doch seine Arme und Beine waren mit Lederschlaufen gefesselt.
    Der Weißgekleidete beugte sich zu ihm herab. »Alles in Ordnung, Kendrick?« fragte er. »Die besten Nerven haben Sie ja nicht. Ihr Hang zu plötzlichen Ohnmachtsanfällen ist sehr bedenklich. Immer, wenn es kritisch wird, blenden Sie sich aus, und es kommt zu einer Überlagerung. Wie haben Sie sie diesmal wahrgenommen? Bilder, Gerüche?«
    »Lysol«, flüsterte Kendrick. »Es stank nach Lysol.« Wie hier, fügte er in Gedanken hinzu.
    Erst jetzt fiel ihm auf, daß der Weißgekleidete ihn mit seinem Namen

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