Willkommen in der Wirklichkeit
angesprochen hatte. Erleichtert atmete er auf; man schien seine wahre Identität mittlerweile erkannt zu haben.
Aber wo war er hier? In einem Krankenhaus?
Der Mann löste behutsam die Schnallen. Kendrick rieb sich die Gelenke, setzte sich auf und atmete tief durch. Er blickte sich um, doch seine Umgebung erinnerte ihn weniger an ein Hospital als an einen Bunker: nirgendwo ein Fenster, die Luft schwer und stickig und durch und durch mit diesem Reinigungsmittel getränkt.
»Sie haben es geschafft, Kendrick«, sagte der Weißgekleidete lächelnd. In seiner Stimme schwang ein Hauch von Pathos mit. »Sie haben der Bewegung einen großen Dienst erwiesen. Die Experimente sind erfolgreich verlaufen, und die gesamte NBB ist stolz auf Sie, Kamerad! Sie haben Ihre Pflicht vorbildlich erfüllt.«
»Die NBB?« fragte Kendrick schwach. Der Unbekannte, der die Zellentür im Bezirksgefängnis geöffnet hatte, hatte dieses Kürzel auch benutzt … Kendrick verscheuchte den Gedanken an diesen Mann; sein Mageninhalt drohte sich zu heben.
Der Arzt – so es einer war – zog eine Augenbraue hoch. »Ich weiß, Sie haben viel durchgemacht, Kendrick, aber …«
»Ich …« Kendrick stockte. Wer war dieser Mann, und von welchen Experimenten sprach er? Den Worten des Unbekannten nach zu urteilen hätte er, Kendrick, eigentlich wissen müssen, wovon er sprach. »Ich glaube, ich habe mein Gedächtnis verloren«, sagte er vorsichtig, obwohl er sich an alles erinnern konnte, angefangen bei seiner Ankunft in Pine County am Montag abend bis hin zu dem Gefängnisaufseher, der plötzlich … aufgeplatzt war wie eine überreife Frucht.
Aber … er hatte sich für einen Arzt gehalten. Dabei konnte er noch nicht einmal eine Spritze sehen, geschweige denn eine setzen. Er war Anwalt; von Medizin hatte er nicht mehr Kenntnisse als jeder andere Laie auch.
Ein Name geisterte durch seinen Kopf. Tessa … er hatte geglaubt, mit ihr verheiratet zu sein. Dabei kannte er sie nur flüchtig … eine kurze Beziehung – vier, fünf Mal hatten sie miteinander geschlafen, und dann war sie ihm lästig geworden.
Und wieso hatte er ein Haus in Pine County? Er kannte dieses Kaff nur dem Namen nach, war noch nie dort gewesen.
Was wurde hier gespielt?
Und wo, zum Teufel, befand er sich jetzt?
»Sicher eine der bisher unerforschten Nebenwirkungen, Kamerad«, sagte der Arzt beruhigend. »Sie wird jedoch nicht lange anhalten. Ruhen Sie sich aus, schlafen Sie, essen Sie, treiben Sie etwas Sport. Es ist tatsächlich zu einer Unregelmäßigkeit gekommen. Die Überwachungsapparate haben einen leichten Schlaganfall angezeigt, doch dann haben sich Ihre Körperfunktionen augenblicklich wieder normalisiert. Wahrscheinlich nur die Erscheinungsform einer Rückkopplung.« Er streckte Kendrick die Rechte hin. »Ehe ich es vergesse, Kamerad: Willkommen in der Wirklichkeit!«
Kendrick murmelte ein paar unverständliche Allgemeinsätze und schüttelte die Hand. Sie fühlte sich feucht und klamm an.
Der Arzt half ihm auf und führte ihn durch einen dunklen Gang, in dem zahlreiche ungeöffnete Kartons standen, deren Aufschriften auf medizinische Überwachungsgeräte hinwiesen, in ein anderes Zimmer, einen behaglich eingerichteten Raum mit einem modernen Bett, einem kleinen Schrank, zwei Sesseln und einem Tisch. »Ruhen Sie sich aus«, wiederholte er. »Ich schicke Tessa zu ihnen.«
Mit müden Schritten bewegte sich Kendrick auf das Bett zu und setzte sich auf den Rand. War er hier in einer Irrenanstalt? Nein … er mußte sich an einem geheimen Ort befinden, zu dem man unliebsame Mitbürger brachte, die die öffentliche Sicherheit zu gefährden drohten. Ein Internierungslager der Armee?
Kaum hatte er sich auf der Matratze ausgestreckt, als eine junge Frau das Zimmer betrat – weißblond, hübsches Gesicht, gute Figur, die von einem weißen Nylonkittel eingezwängt wurde. Auf dem rechten Ärmel des Kittels fiel Kendrick ein kleines schwarzes Emblem auf. Das gleiche hatte er auch auf dem Kittel des Arztes bemerkt.
»Geht es dir wieder besser, Kamerad?« fragte sie und baute sich zwei Schritte vor ihm auf. Eine Walküre, dachte Kendrick und stellte fest, daß sie unglaublich hübsche Beine hatte.
»Ja«, erwiderte er knapp und deutete auf das Wappen. »Was ist das?«
Die Frau starrte ihn verblüfft an.
»Das hast du auch vergessen, Kamerad?« Sie schüttelte den Kopf. »Daß es so schlimm mit dir steht, hätte ich nicht gedacht.«
»Was bedeutet es?« bohrte
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