Willkommen in der Wirklichkeit
Kendrick.
»Das Zeichen, Kamerad! Das Zeichen der NBB!«
»NBB?«
Sie setzte sich zu ihm auf den Bettrand. »Nationale Befreiungsbewegung!«
»Natürlich.« Kendrick nickte. Der Begriff sagte ihm nichts, doch er gab sich kundig. »Wissen Sie, was mit mir geschehen ist?«
»Aber sicher. Ich bin über alles informiert. Schließlich gehöre ich ja zum Projekt.« Die Frau sagte dies nicht ohne Stolz.
Aus ihrem Benehmen sprach eine gewisse Vertrautheit mit ihm, und … der Arzt hatte gesagt, er wolle Tessa zu ihm schicken. Aber das war nicht Tessa, zumindest nicht die Tessa, mit der er ein paar Mal ins Bett gegangen war … Diese Tessa war zierlich, dunkelhaarig, keine solche Walküre aus einem Wagnerschen Alptraum von einem nordischen Götterreich.
»Informieren Sie mich«, bat Kendrick. »Schließlich will ich nicht ganz unwissend dastehen, wenn die Ergebnisse der … Experimente ausgewertet werden.«
»Aber gern, Kamerad«, sagte die Frau lächelnd. »Du hast dich freiwillig für unser großes Projekt gemeldet.«
»Welches Projekt?« Die Worte rasten in Kendricks Schädel nur so durcheinander.
»Wir mußten doch feststellen«, erklärte die Walküre, »wie sich die Droge in allen Einzelheiten auswirkt, bevor wir sämtliche Trinkwasserreservoirs mit ihr beschicken.«
»Droge?« Kendrick spürte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte.
»Du weißt nicht mehr, welche Wirkungen sie hat?« fragte die Frau und kicherte. In ihrer Stimme schwang plötzlich Sadismus mit. »Deine Testergebnisse haben aufgezeigt, wie sie wirkt, Kamerad! Mit dieser Droge läßt sich buchstäblich alles in die Gehirne der Menschen einpflanzen. Alles!« Sie rückte näher zu ihm heran. »Sie wird unsere Machtübernahme sehr erleichtern«, versicherte sie.
Kendrick befreite sich von ihr. »Ich … ich war das Versuchskaninchen? Man hat mich dieser Droge ausgesetzt?«
Ernüchtert hob die Frau den Kopf. »Aber mein Schatz … der Test war ein voller Erfolg! Nachdem die Wirkung der Droge abgeklungen war, bist du in die Realität zurückgekehrt. Zugegeben, da waren ein paar Aussetzer … in Streßsituationen hast du immer wieder Eindrücke von der Wirklichkeit gehabt, Geräusche und Gerüche deiner tatsächlichen Umgebung wahrgenommen …«
Das Lysol, dachte Kendrick. Die Stimmen, die Geräusche der medizinischen Apparaturen …
»Und jetzt«, fuhr die Frau fort, »verschmäht unser Held die kleine Tessa …« Sie strich sich dabei den Kittel glatt.
»Wann soll die Machtübernahme stattfinden?« fragte Kendrick. Er kannte diese Organisation nicht, die sich NBB nannte, genausowenig wie dieses Zimmer, diese Frau. Er fühlte sich in San Francisco zu Hause, war dort Anwalt, arbeitete als Juniorpartner in einer bekannten und angesehenen Kanzlei und hatte gelegentliche Affären mit Frauen, die so ganz anders waren als diese Walküre. Und doch hatte man ihn von hier aus eingesetzt …
»Darüber weiß ich nichts.« Tessa setzte sich auf. »Bist du wirklich in Ordnung, Kamerad? Ich sollte wohl besser …« Sie verstummte und machte Anstalten, zur Tür zu gehen.
»Schon gut.« Eine plötzliche Kälte drang in Kendricks Glieder und drohte sie zu lähmen. Dieses Anzeichen war ihm doch noch vertraut …
Fieberhaft dachte er nach. Er mußte fliehen und die Behörden informieren. Aber würde man ihm Glauben schenken? Wer war er wirklich? War er nicht doch verrückt? Nein, er war normal, völlig normal, wie jeder andere Mensch auch. Doch wenn Tessa die Wahrheit gesprochen hatte, gehörte er dieser Bewegung an – und war zum Verräter geworden, nicht nur an der Bürgerschaft von Pine County, in der er sich engagierte, sondern an der Demokratie überhaupt!
Welche Bürgerschaft? Welches Pine County?
»Tessa«, stöhnte er.
»Ah, jetzt kennt mein Held mich doch …« Sie beugte sich zu ihm herab und knöpfte langsam ihren Kittel auf. Ihre riesigen, weißen Brüste drohten aus einem schwarzen, spitzenumrandeten BH zu quellen, der sie kaum fassen konnte. Kendrick mußte sich zwingen, den Blick von ihrem Fleisch abzuwenden. Er sah auf, suchte ihr Gesicht, ihre Augen …
Sein Herzschlag schien einen Augenblick lang auszusetzen.
Tessas rechtes Auge platzte auf, floß aus der Höhle. Knochen brachen aus ihrem verwesenden Gesicht hervor, zuckten wie die Glieder eines Fieberkranken.
»Tessa«, krächzte er.
Leere breitete sich in seinem Kopf aus. Diese Kälte, diese Kälte!
Tessas Haare pulsierten, zuckten wie die Schlangen der Medusa, zerfielen zu Staub.
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