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Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Anton
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rasch entfernten.
    Er seufzte erleichtert.
    »Machen Sie sich nichts daraus, Valentin«, riet Dr. Janosz. »Diese Lynkaner sind alle verrückt. Wie Paul Lynk. Er war Reinkarnaut in einem kleinen Institut an der Ostküste. Nach dem zehnten oder zwölften Transfer bekam er einen Nervenzusammenbruch und mußte mehrere Monate lang psychiatrisch behandelt werden. Nicht, daß ihm die Therapie viel geholfen hat. Anschließend bewarb er sich bei einer ganzen Reihe anderer Institute, aber keines wollte ihn nehmen. Danach stieg er ins Religionsgeschäft ein.« Der Arzt lachte trocken. »Die einzige Branche – neben der Politik – in der man verrückt sein muß, um Erfolg zu haben.«
    Janosz schwieg für einen Moment.
    »Ich gebe Ihnen jetzt eine Injektion, Valentin«, fuhr er fort. »Ein leichtes Beruhigungsmittel. Wir hatten Schwierigkeiten, Sie zurückzuholen. Sie sollten eine Weile ausspannen. Urlaub machen.« Das Zischen einer Injektionspistole, ein kühler Druck in der rechten Armbeuge. »Ehe ich es vergesse – der Chef hat sich nach Ihrem Befinden erkundigt. Er machte Andeutungen über einen neuen wichtigen Klienten. Offenbar will er, daß Sie den Fall übernehmen. Lehnen Sie ab, Valentin. Das ist ein ärztlicher Rat. Sie haben genug für das Institut getan. Wenn Sie so weitermachen wie bisher, werden Sie sich bei irgendeinem der nächsten Transfers selbst einen neuen Mutterschoß suchen müssen.«
    Janosz redete weiter, aber Valentin war zu müde, um auf seine Worte zu achten. Das Beruhigungsmittel begann zu wirken, und er schlief ein.
    Als er wieder erwachte, lag er in einem der oberirdischen Krankenzimmer mit Blick auf die Ruinen der Stadt. Der Abend dämmerte und warf ein graues Tuch über den Himmel. Schwere Regentropfen prasselten gegen die Fensterscheibe. Auf der hohen Mauer, die das Institutsgelände vom nahen Trümmergürtel abschirmte, flammten die Scheinwerfer auf und tauchten das Niemandsland in grelles Licht.
    Valentin warf einen Blick auf die Digitaluhr an der Wand. Acht Minuten nach sechs – und zwei Tage später.
    Zwei Tage! Es war ein Schock. Er hatte noch nie soviel Zeit gebraucht, um sich von den Anstrengungen einer Reise zu erholen. Dr. Janosz hatte recht. Er brauchte Erholung. Urlaub. Dringend. Aber dann dachte er an Christina und die Klage, und er wußte, daß er sich keinen Urlaub leisten konnte.
    Valentin griff nach dem Vidfon auf dem Nachttisch, um Saul Schomon anzurufen – vielleicht hatte er inzwischen irgendeine Möglichkeit gefunden, um die Klage abzuwehren – aber als seine Hand den Hörer berührte, spürte er, wie sich etwas veränderte.
    Verwirrt hielt er inne.
    Es dauerte eine Weile, bis er erkannte, was es war. Das Prasseln des Regens gegen die Fensterscheibe hatte aufgehört, doch es regnete immer noch. Auf eine andere Art. Die über das Glas verteilten Wasserspritzer ballten sich zu dicken Tropfen zusammen, die Tropfen liefen an der Scheibe hinauf und sammelten weitere Flüssigkeit, lösten sich dann plötzlich und schossen nach oben, den schweren dunklen Wolken entgegen.
    Der Regen fiel zum Himmel hinauf!
    Valentin befand sich wieder unter dem Einfluß der Retrozeit – Lu Lohannon mußte in der Nähe sein.
    Er fluchte. Seine Blicke wanderten zur Uhr, und Furcht ergriff ihn. Die Digitalanzeige stand jetzt auf 18.07.48, und der Sekundenzähler bewegte sich weiter rückwärts: 47, 46, 45, 44 … Valentin hatte noch nie erlebt, daß die Retrozeit so massiv auf seine physikalische Umwelt einwirkte. Ihm wurde heiß; die Luftfeuchtigkeit kondensierte als Schweiß auf seiner Stirn und wurde von den Poren aufgesogen.
    Ein Geräusch an der Tür.
    Valentin erstarrte. Wie gelähmt verfolgte er, wie sich die Tür einen Spalt weit öffnete und die kleine schmächtige Gestalt des Hausmeisters hereinschlüpfte. Lautlos schloß er die Tür wieder und drehte sich zu Valentin herum. Sein Gesicht war kalkweiß und schmerzverzerrt. An seiner Stirn befand sich eine münzgroße verschorfte Wunde. Er stolperte auf das Bett zu; jede Bewegung schien ihm ungeheure Mühe zu kosten.
    »Großer Gott«, flüsterte Valentin. »Was ist mit Ihnen, Lu?«
    Erst dann wurde ihm bewußt, daß sich Lohannon nicht mehr wie in einem rückwärts laufenden Film bewegte, doch einen Moment später erkannte er seinen Irrtum: Nicht Lohannon hatte sich verändert, sondern die Art, wie er Lohannon wahrnahm. Valentin war in die gleiche temporäre Falle geraten wie der alte Mann. Gemeinsam wanderten sie zeitabwärts, der

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