Willkommen in der Wirklichkeit
Weiße. Eine Amerikanerin. Gott sei Dank!«
»Noch etwas, Valentin?« fragte Stella sanft.
Er durchforschte sein Gedächtnis nach einem Anhaltspunkt, um die Schwangere – Hiram P. Astors Mutter – zu identifizieren, doch er sah nur ihr etwas fülliges Durchschnittsgesicht, lächelnde Lippen, glückliche Augen. Hände, über dem gewölbten Bauch gefaltet. Rosiges Fleisch im Dunkel ihres weiten Rockes. Ein pochendes Herz im Gefäß eines warmen Körpers. Ein winziger Leib, kaum entwickelt, in der schützenden Höhle der Gebärmutter.
»Ein Name«, sagte Croft ungeduldig. »Wir brauchen den Namen!«
»Kein Name«, krächzte Valentin. »Nur die Stadt …«
»Es genügt«, erklärte Stella. »Mountain Springs. In Mountain Springs kann es nicht viele werdende Mütter mit haselnußbraunen Haaren geben, die auf einer Farm an der Landstraße wohnen. Wir werden sie finden.«
Valentin schloß erschöpft die Augen. Seine Aufgabe war beendet. Alles andere lag jetzt bei Stella Tschun. Sie würde die werdende Mutter aufspüren und sie informieren, daß sie die Ehre hatte, den reichsten Mann Amerikas zu gebären. Und nach der Geburt … Nun, der Säugling würde ein normaler Säugling sein, ohne Wissen, ohne Identität – aber mit der unbewußten Fähigkeit versehen, sich an sein altes Leben zu erinnern. Das Institut hatte dafür gesorgt. Stella hatte dafür gesorgt, das Wissen um seine Identität in den Tiefen von Hiram P. Astors Bewußtsein verankert, tief genug, um das vergessenbringende Intervall und das Trauma der Geburt zu überstehen.
Valentin entspannte sich.
Er war müde. Er wollte schlafen.
»Ich schlage vor«, hörte er Stella Tschun zu Croft sagen, »wir brechen sofort nach Mountain Springs auf.«
»Ja, natürlich«, nickte der Generalbevollmächtigte des ASI-Konzerns. »Aber … ich habe noch eine Frage. An Mr. Valentin.« Sein Tonfall verriet Unbehagen. Sogar Furcht. Doch seine Neugierde war stärker. »Mr. Valentin?«
»Fragen Sie«, flüsterte Valentin. Er wußte, was kommen würde. Jeder, der einen Angehörigen in das Institut zum Sterben brachte, stellte diese Frage. Routine.
»Haben Sie …« Croft schluckte. »Haben Sie Ihn gesehen, Mr. Valentin? Den Allmächtigen? Haben Sie Gott in der anderen Welt gesehen?«
Valentin schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er heiser. »Ich habe Gott nicht gesehen, aber … Er hat mich gesehen. Ich habe seine Blicke gespürt.« Und er schauderte bei der Erinnerung. »Er kannte mich. Er hat mich immer gekannt. Er wußte, was ich tat, und Er war nicht zufrieden. Und …« Er stockte.
»Sprechen Sie!« zischte Croft. »Sprechen Sie weiter! Bitte, Mr. Valentin! Ich muß es wissen!«
»Es war nicht nur Unzufriedenheit. Sondern Verachtung. Aus Enttäuschung geboren. Die Enttäuschung galt nicht allein mir. Es war nichts Persönliches.«
Stewart Croft keuchte.
»Seine Verachtung galt dem ganzen Menschengeschlecht«, fügte Valentin hinzu. Er lächelte schmerzlich. »Schockiert Sie das, Mr. Croft? Daß Er uns nicht achtet? Daß Er uns nicht die Achtung entgegenbringt, die man einem menschlichen Wesen entgegenbringen sollte? Wie könnte Er uns achten? Nach allem, was die Menschen getan haben? Die Kriege, die Verbrechen, Folterungen und Massenmord, Hiroshima und Auschwitz … Wir können froh sein, daß Er uns nicht verstößt.«
Aber selbst das, dachte Valentin, ist nur die halbe Wahrheit. Denn Er ist ein rachsüchtiger Gott. Er läßt uns leiden, im ewigen Zyklus von Geburt, Tod und Wiedergeburt. Und Er hilft uns nicht. Er wartet – gleichgültig, geduldig, unnahbar –, daß wir uns selbst helfen. Daß wir heranreifen. Aus eigener Kraft zu Ihm finden. Tanzende Monaden, ätherisch und frei, in der Sonne Seines Angesichts.
»Sie lügen«, sagte Stewart Croft kalt. »Ich wußte es. Paulus Lynk hat uns vor Leuten wie Ihnen gewarnt. Vor den falschen Propheten, den Reinkarnauten, die mit Lügen aus der anderen Welt zurückkehren … mit Täuschungen, Trugbildern, die Ihnen der Antichrist vorgegaukelt hat. Sie sind verdammt, Mr. Valentin«, sagte Stewart Croft und seine Stimme hob sich in wildem boshaften Triumph. »Das ist es! Sie sind verdammt, ein Werkzeug des Satans. Sie …«
»Schmeißen Sie ihn raus, Doktor!« bat Valentin mit geschlossenen Augen. »Ich kann ihn nicht mehr ertragen.«
»Kommen Sie, Mr. Croft«, sagte Stella. »Es ist besser, wir gehen jetzt.« Sie berührte kurz – zärtlich – Valentins Wange, dann hörte er, wie sich ihre und Crofts Schritte
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