Willkommen in der Wirklichkeit

Vergangenheit entgegen, fort von der Gegenwart, der Zukunft.
    Seine Angst wuchs.
    »Sagen Sie nichts, Mr. Valentin«, bat Lohannon mit kaum hörbarer Stimme. Er hielt sich am Bettpfosten fest, schwankend, keuchend, am Ende seiner Kraft. »Stellen Sie keine Fragen. Hören Sie nur zu. Wir haben nur diese eine Gelegenheit …« Er berührte die verschorfte Wunde an seiner Stirn und lächelte verzerrt. »Keine Sorge, das hat nichts mit dem Zeitunfall zu tun. Sonst wäre sie längst verheilt – das heißt, sie hätte sich längst zurückgebildet … Morgen werde ich mir den Kopf an einer Türkante stoßen – oder sollte ich besser sagen: gestern habe ich mir den Kopf an einer Türkante gestoßen?« Er machte eine müde, resignierte Handbewegung. »Es ist alles so kompliziert. Diese verfluchte Chronosonde … hat mich voll erwischt … aber die Aura wird bereits schwächer. Bald wird sie zu schwach sein, um Sie in meine Zeitebene zu holen, und dies ist unsere einzige Gelegenheit. Niemand darf sehen, daß wir miteinander sprechen. Sie könnten sonst mißtrauisch werden. Vor allem dieser Hurensohn Garfunkel … Er hat bereits Verdacht geschöpft. Er beobachtet mich. Er ahnt – er weiß – daß mein Zustand etwas mit der Chronosonde zu tun hat, mit diesem verbrecherischen Zeitexperiment.«
    Der Hausmeister bleckte die Zähne, und der Haß, der aus seinem Blick sprach, erschreckte Valentin. Er wollte etwas sagen, aber Lohannon brachte ihn mit einer schroffen Geste zum Schweigen.
    »Keine Fragen, verdammt. Ich sagte doch, daß die Chronoaura bereits schwächer wird. In ein paar Minuten werden Sie sich wieder zeitaufwärts bewegen, und dann ist es zu spät. Bitte, Mr. Valentin. Es steht zuviel auf dem Spiel.« Er befeuchtete seine rissigen, blutleeren Lippen. »Morgen«, sagte er. »Das heißt, für mich liegt es jetzt schon einen Tag zurück … Konträre Zeitabläufe, Sie verstehen. Wir leben aneinander vorbei. Buchstäblich. Aber diese Minuten … sie gehören uns.« Er hustete. »Heute ist ein Mann ins Institut eingeliefert worden. Sean Crawford. Er ist unheilbar krank – eine HIV-Mutation. Zusammenbruch des Immunsystems. Nicht einmal die Gen-Techniker vom VEB Pharmazeutik haben bisher ein Mittel gegen diese teuflische Virusmutation finden können … Aber das ist nebensächlich. Crawford wird sterben. Auch das ist nebensächlich. Wichtig ist, daß Crawford nicht sein richtiger Name ist. Der Mann heißt in Wirklichkeit Hutten. Karl von Hutten.«
    Valentin sah den Alten sprachlos an. Karl von Hutten. Der Direktor des VEB Elektronik, der heimliche Herrscher des Wiedervereinigten Deutschlands, war hier im Institut. Um zu sterben. Um von einem Scout ins nächste Leben geführt zu werden. Aber warum? fragte sich Valentin. Warum ist Hutten nach Los Angeles gekommen? Warum hat er sich nicht in eins der deutschen Institute begeben? Ins Auferstehungs-Center von Berlin, zum Beispiel. Dort arbeiten die besten deutschen Reinkarnauten …
    »Hutten ist natürlich nicht allein gekommen. Er hat seinen ganzen Stab mitgebracht. Leibwächter, Berater, Speichellecker – und einen Mann namens Garfunkel. Professor Johann Garfunkel. Ein Chronophysiker. Direktor des streng geheimen Chronophysikalischen Instituts von Heidelberg. Offiziell existiert es nicht. Offiziell wird dort an Terraformungs-Projekten gearbeitet … Sie wissen doch, daß die Deutschen vorhaben, aus Mars, Venus und dem Jupitermond Ganymed Zweitausgaben unserer guten alten, hoffnungslos verdreckten Mutter Erde zu machen … Neue Welten für die hungernden, darbenden Massen der Dritten Welt. Alles Propaganda. Goebbels läßt grüßen. In Wahrheit haben die Heidelberger Wissenschaftler eine Zeitsonde entwickelt; die Deutschen können damit in die Vergangenheit blicken … und wie es scheint, ist diese verfluchte Maschine noch zu anderen Dingen fähig.«
    Lohannon hustete erneut. Er sah krank aus. Viel kranker als vor ein paar Tagen, als Valentin ihm im Korridor seines Apartmenthauses begegnet war. Oder begegnen würde. Für Lohannon lag dieses Treffen in der Zukunft. Also würde er sich erholen. Von diesem Zeitunfall, der sich morgen ereignen würde … der sich, was Lu Lohannon betraf, vor einem Tag ereignet hatte.
    Valentin schüttelte benommen den Kopf. Es war alles zu verwirrend. Karl von Hutten im Institut, dieses Gerede über Zeitsonden, verbrecherische Experimente …
    »Was wollen Sie von mir, Lu?« fragte er rauh. »Warum erzählen Sie mir das alles?«
    »Weil Sie die