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Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Anton
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und wir werden uns verlieren. Als ob man ein Videoband löscht und es mit einem neuen Film bespielt. Nichts bleibt von der Originalaufnahme übrig. Als hätte es sie nie gegeben. Und wir werden nicht einmal wissen, daß wir das Wertvollste verloren haben, was uns das Leben schenken kann.
    »Sie irren sich«, flüsterte Karl von Hutten. »Ich kenne Ihre Bedenken, aber Sie irren sich. Wir sind keine Hasardeure. Wir sind keine Selbstmörder, die ihre eigene Existenz negieren wollen. Sehen Sie, Mr. Valentin, ich bin präpariert. Alles, was wir über das Leben und die Taten Adolf Hitlers wissen – alles, angefangen von den kleinen privaten Dingen bis hin zu den welthistorischen Entscheidungen – ist tief in meinem Unterbewußtsein verankert. Tief genug, um das Trauma des Todes und das Trauma der Wiedergeburt zu überstehen. Ich werde Adolf Hitler sein. Ich werde denken wie er, handeln wie er, leben wie er, sterben wie er. Mit einem Unterschied. Es wird keine Gaskammern geben. Judenverfolgung – ja. Konzentrationslager – ja. Krieg – ja. Aber keine Gaskammern, keine Massenerschießungen, keinen Holocaust.«
    »Aber wie …«
    »Ein posthypnotischer Befehl. Mächtig. Unauslöschlich. Unwiderstehlich. Im März des Jahres 1938 wird er wirksam werden. Ausgelöst durch Hitlers – durch meinen – triumphalen Einzug in Wien, beim Anschluß Österreichs. Von da an wird sich Hitlers Judenpolitik verändern. Langsam, aber unaufhaltsam. Bis schließlich, auf Führerbefehl, die Teilnehmer der Wannsee-Konferenz beschließen, das Leben der Juden zu schonen, um ihre Arbeitskraft für die deutsche Rüstungsindustrie zu nutzen. Eine rationale Entscheidung. Der Kriegslage entsprechend. Selbst für Himmler, Rosenberg und die anderen antisemitischen Nazi-Ideologen nachvollziehbar. Verstehen Sie, Mr. Valentin? Der Aufstieg des Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg mit all seinen Schrecken und all seinen Opfern, die deutsche Niederlage, der Zusammenbruch, die Besetzung und Teilung des Deutschen Reiches – die historische Entwicklung wird genauso verlaufen, wie wir sie kennen. Nur dieser eine Punkt, der Holocaust, dieses unmenschliche, unverzeihliche Verbrechen, das den Namen Deutschlands in der ganzen Welt und für Jahrhunderte beschmutzt … Diese Schande, diese ungeheuerliche Untat …«
    »Sechs Millionen Menschen«, warf Benjamin Bernstein mit leiser Stimme ein. »Das Leben von sechs Millionen Menschen liegt in Ihrer Hand, Valentin.«
    »Nach meinen Berechnungen«, fügte Garfunkel hinzu, »ist das Zeitgefüge flexibel genug, um eine derart … äh … geringfügige Veränderung zu tolerieren.«
    »Berechnungen«, sagte Valentin. »Niemand kann garantieren, daß Ihre Berechnungen stimmen.« Er dachte wieder an Lohannon. »Ich muß nachdenken«, murmelte er. »Ich brauche Zeit.«
    »Wir haben keine Zeit«, erklärte Karl von Hutten. »Wir …« Ein Hustenanfall erschütterte seinen siechen Körper. »Mein Leben geht zu Ende. Ich werde sterben. Bald. Und da ist noch etwas … Das Wichtigste, Mr. Valentin … Da ist dieses Schiff«, flüsterte der Greis. »Dieses Schiff dort draußen jenseits der Sonne. Und es kommt näher und näher. Es kommt von einem dieser Sterne zu unserer Erde, und seine Ankunft wird alles verändern. Die Völker der Erde werden um die Raumfahrer in einen Wettstreit treten, und welchem Volk es gelingt, ihr Vertrauen und ihre Freundschaft zugewinnen, das wird von diesem Tag an den Lauf der Weltgeschichte bestimmen. Aber wie wird es sein, wenn wir Deutschen zu den Raumfahrern kommen? Wenn sie uns fragen, uns als Volk, wer wir sind und woher wir kommen und was wir getan haben? Wenn wir ihnen sagen müssen, was unsere Großväter getan haben, wenn wir ihnen von den Lampenschirmen aus Menschenhaut erzählen müssen, von den Leichenbergen und dem süßlichen Rauch der Krematorien …«
    »Aber das alles liegt hundert Jahre zurück«, erinnerte Valentin.
    Hutten schüttelte müde den Kopf. »Wir haben einen Teil ihrer Signale entschlüsseln können. Nur einen Teil, nicht viel, aber genug, um uns ein Bild von den Raumfahrern machen zu können, von ihrer Art des Denkens, ihrer Kultur. Die Zeit hat für sie eine andere Bedeutung. Für die Raumfahrer wird es sein, als wäre der Holocaust erst gestern geschehen.« Hutten atmete schwer. »Wir sind gezeichnet. Wir tragen das Kainsmal, für alle Augen sichtbar. Wir werden zu den Raumfahrern kommen, und sie werden das Kainsmal sehen, und Deutschland …« Er schauderte.

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