Willkommen in der Wirklichkeit
jüdischen Augen wurde sie von Hitlers Schatten verdunkelt, und in den Schatten trug jeder Gegner ein SS-Gesicht.
Und Hutten? fragte sich Valentin. Was ist mit Karl von Hutten – und den anderen Deutschen?
Er sah den greisen Mann in seinem Rollstuhl an, den mächtigsten Mann des Wiedervereinigten Deutschlands, sah dann zu Garfunkel, dem deutschen Chronophysiker, groß und dünn, das Haar schütter, das Gesicht zerfurcht, und zu Christina, die im Hintergrund stand, am Videofenster des unterirdischen Büros. Christina war stark geschminkt, ein maskenhaftes Make-up, in dem nur die Augen lebten. Und in ihren Augen …
Fanatikeraugen, dachte Valentin. Kaltes Feuer. Das unlöschbare Feuer einer Vision, die wie die Paranoia der Juden der Welt der Archetypen entsprang, der deformierten deutschen Seele. Die Schuld, dachte Valentin, hat die deutsche Seele deformiert. Sie sind die Täter, und für diese Art Tat gibt es keine Vergebung. Weil sie sich nicht selbst vergeben können. Weil es Verbrechen gibt, für die es keine Sühne geben kann, Verbrechen, die im Wortsinn unmenschlich sind. Ihre einzige Hoffnung auf Erlösung ist, diese Tat ungeschehen zu machen. Deshalb dieser faustische Plan, dieser Eingriff in die Zeit. Um von ihrer Schuld erlöst zu werden.
»Sie müssen verstehen«, sagte Karl von Hutten, während er Valentin beschwörend ansah. »Sie müssen verstehen, daß wir aus den ehrenvollsten Motiven heraus handeln, daß der Plan, den wir verfolgen, einmalig in der Geschichte der Welt ist, daß dieser Plan so groß ist, von solch existentieller Bedeutung, daß alle Mittel erlaubt sind, um ihm zum Erfolg zu verhelfen. Es geht um das Leben von sechs Millionen Menschen, und wir werden das Leben dieser Millionen retten.«
»Aber diese Leute sind tot«, sagte Valentin heiser. »Sie sind seit hundert Jahren tot. Wie wollen Sie sie retten? Wie stellen Sie sich das vor? Was wollen Sie tun? Wollen Sie Ihre Agenten in die Vergangenheit versetzen und die KZs stürmen lassen?«
Professor Garfunkel räusperte sich. »Es gibt keine Möglichkeit, Materie in die Vergangenheit zu versetzen. Es ist physikalisch unmöglich.«
»Aber was dann?« fragte Valentin. Er war verwirrt. »Was haben Sie vor?« Er sah von Garfunkel zu Karl von Hutten. »Und welche Rolle spiele ich in Ihren Plänen?«
»Ich werde sterben«, sagte Karl von Hutten mit brüchiger Stimme. »Ich bin ein todkranker Mann. Sehen Sie mich an. Das Virus tötet mich. Ich brauche einen Reinkarnauten, der mich ins nächste Leben führt. Ich brauche Sie, Mr. Valentin.«
»Warum nehmen Sie nicht einen von den Scouts aus dem Berliner Auferstehungs-Center?«
»Weil diese Reise die längste und gefährlichste Reise werden wird, die je zwei Seelen unternommen haben. Weil mein Ziel nicht die Zukunft ist, sondern die Vergangenheit. Weil das Problem darin besteht, zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort einen bestimmten Mutterschoß zu finden. Unsere Reinkarnauten haben es versucht, aber sie sind gescheitert. Wir brauchen den besten Scout für diese Aufgabe, Mr. Valentin, und der beste Scout sind Sie.«
»Welches Jahr?« fragte Valentin. »In welchem Jahr wollen Sie wiedergeboren werden?«
Der Greis lächelte spinnenhaft: lauernd, kalt, hungrig. »1889«, sagte er. »Genauer – am 20. April 1889. In Europa. In einem Gebiet, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte. In einer kleinen Stadt an einem Fluß namens Inn. Braunau am Inn. Das Kind, das an diesem Tag geboren wird, ist ein Junge. Der Junge wird später auf den Namen Adolf getauft. Adolf Hitler.«
Valentin starrte den alten Mann an. Adolf Hitler. Natürlich. Er hätte es wissen müssen. Ein Mann wie Karl von Hutten gab sich nicht mit halben Dingen zufrieden. Aber als Adolf Hitler wiedergeboren zu werden, um den Holocaust an den europäischen Juden zu verhindern … Valentin fröstelte. Gott, dachte er, Hutten meint es ernst. Er will es wirklich tun. Und es wird die Welt verändern, so gründlich, so radikal, daß … Es war unmöglich, sich die Veränderung in ihrem ganzen Ausmaß vorzustellen.
Valentin dachte an Lohannon.
An die Retrozeit, an die Hölle des rückwärts laufenden Lebens.
Aber selbst wenn das Gefüge der Zeit der gewaltigen Erschütterung eines Eingriffs in die Vergangenheit standhielt – was würde dann aus ihnen allen werden? Er blickte zu Christina hinüber. Wir werden uns nie begegnen, dachte er wie betäubt. Die Zeit wird sich drehen, die Welt wird einen anderen Weg einschlagen,
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