Willkommen in der Wirklichkeit
andere Anstellung finden können. Tatsächlich hatte sich Philip K. während der letzten vier oder fünf Wochen nur mit Suppe aus heißem Wasser und einigen Ketchupspritzern am Leben erhalten. Es war – wenn er es sich recht überlegte – wirklich eine Erleichterung, eine Tomate zu sein. Philip K. atmete ein, atmete aus, betrieb Photosynthese und genoß die erquickliche und existentielle Freude über die Tatsache, über den Durchschnittsbürger hinausgewachsen zu sein.
DIE SPANNUNG STEIGT
Einige Philip K.-Monate vergingen. Während er um den feurigen roten Riesen herumwirbelte, begann er zu fürchten, daß sein Orbit instabil war und er unvermeidlich und unerbittlich auf die Glut seines Zentralgestirns zutrieb, um dort vorzeitig geschmort zu werden. Wie groß seine Sonne geworden war! Gegen Ende seines ersten Jahres als planetare Tomate stellte Philip K. schließlich fest, daß sein Orbit keineswegs instabil war. Nein. Er war es vielmehr, der wuchs, der anschwoll und die unermeßliche Saftigkeit des Lebens entwickelte. Seine orangerote Epidermis, die eine gleichmäßig ausgebildete Schicht optischer Wahrnehmungszellen enthielt – seine Augen oder Das Auge, Das Er War (je nachdem, welche Betrachtungsweise man in dieser Angelegenheit wählte) – hatte ihn nur dazu verleitet, das Schlimmste anzunehmen. Welche Wonne zu wissen, daß er nun zur Größe des Uranus angewachsen war und sich seine visuelle Erkenntnisapparatur somit näher an die Sonne herangeschoben hatte. Ein holoskopisches Blickfeld konnte trotz der mannigfaltigen Vorteile, die es mit sich brachte (wie etwa die gleichzeitige Wahrnehmung von Tag und Nacht, eine 360°-Wachsamkeit und die angenehme Illusion, sich im Zentrum des Universums zu befinden), manchmal auch ein ziemliches Handikap darstellen. Doch obgleich sein Orbit nicht instabil war, bestand dennoch die Gefahr: Wieviel größer mochte er noch werden? Philip K. verspürte den Wunsch, in einem solaren Backofen totale Verfinsterung zu erleiden.
ZWISCHENMENSCHLICHE BEZIEHUNGEN
Manchmal dachte Philip K. auch an andere Dinge als nur daran, in sein Zentralgestirn zu stürzen, oder, als diese Sorge verblaßte, an die Vortrefflichkeit eines pflanzlichen Lebens. Er dachte an Die Frau, Die Er Verlassen Hatte (und die sich nun den Wechseljahren näherte und nicht zu der Art gehörte, die von Männern zärtlich und anerkennend Tomate genannt wurde). In Wirklichkeit hatte Die Frau, Die Er Verlassen Hatte ihn verlassen, lange bevor er sein eigenes, surreales Klimakterium erfahren hatte. »Ach, Lydia P.«, murmelte er dennoch, und das Seufzen stieg aus dem innersten und saftigsten Kern seiner Gemüseexistenz. Und dann wieder: »Ach, Lydia P.« Er sah Der Frau, Die Er Verlassen Hatte nach, daß sie ihn verlassen hatte, unmittelbar nachdem er entlassen worden war. Er verzieh ihr … und frönte schamlosen Phantasievorstellungen, in denen entweder Lydia P. – in der Begleitung der ersten interstellaren Kolonisten von der Erde – auf ihm landete, oder er, auf normale Größe geschrumpft (für eine Tomate) in ihrer kleinen Wohnung in Houston über ihrem schlafenden Antlitz schwebte und sich ihr darbot. Pomme d’amour. Philip K. baggerte diese Worte aus seinem mentalen Vorratslager an Bagatellen hervor und ließ sich von ihnen trösten. So hatten die Franzosen, die der Überzeugung gewesen waren, sie sei ein Aphrodisiakum, die Tomate genannt, als sie zum erstenmal aus Südamerika importiert worden war. Pomme d’amour. Apfel der Liebe. Vielleicht die Frucht vom Baum der Erkenntnis. Aber welche konkrete Beziehung konnte schon zwischen einer Frau aus Fleisch und Blut und einer Tomate von der Größe eines Planeten Uranus bestehen? Immer häufiger halluzinierte Philip K. ein Erlebnis, in dem die interstellare Kolonistin Lydia P. irgendwo südlich seines breitblättrigen Stengels auf die Knie sank, ihre winzigen Zähne in seine reife Hülle grub und dann angesichts seines so herrlichen Geschmacks dünne Schreie des Entzückens von sich gab. Diese Vision brachte Philip K. aus der Fassung und erregte ihn so sehr, daß er tagelang nur mit diesem einen Gedanken dahinwirbelte, mit keiner anderen Hoffnung, ohne einen anderen Wunsch.
ONTOLOGISCHE ÜBERLEGUNGEN
Wenn er sich nicht in eucharistische Phantasien erging, in denen seine Angebetete von ihm aß und trank, dachte Philip K. ernsthaft über die Problematik seines Daseins nach. »Weshalb eine Tomate?« war die Frage, mit der er seine Beunruhigung
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