Willkommen in der Wirklichkeit
südlichen Hemisphäre einige schwache Hautbeben entfesseln. Sie schenkten diesen Erschütterungen keine Beachtung. Und immer mehr Myrmidopteraner kamen zu ihm herab. Dunkelheit überzog Philip K. von Pol zu Pol, denn die Myrmidopteraner verfinsterten nun auch den letzten Schein Papas. Und zum erstenmal in seinem Leben, sowohl als Mensch sowie als Tomate, war er völlig blind.
DAS TIRESIAS-SYNDROM
Sobald er physisch jeder optischen Orientierung beraubt war, begann Philip K. den Eindruck zu entwickeln, daß seine metaphysischen und geistigen Scheuklappen verschwunden waren. (In Wirklichkeit handelte es sich dabei um eine Illusion, die von dem unterbewußten Bild der Blinden Seherin begünstigt wurde; Tiresias, Ödipus, Homer und – was als nicht ganz so sicher gelten kann – John Miller stellen gute Beispiele dieses Archetyps dar. Doch im Falle von Philip K. führte die Illusion eines neuen Begriffsvermögens dazu, daß sein Sinn für die richtigen Perspektiven und die Bedeutung von Dingen betäubt und gelähmt wurde.) In der weltweiten, sein ganzes Selbst einhüllenden Finsternis kam er zu dem Schluß, es sei seine ethische Pflicht, sein Leben zu schützen, sich seinem Schicksal zu widersetzen, aufgefressen zu werden. Schließlich, so sagte er sich, könnte ich in dieser neuen Verkörperung – oder wie auch immer man den Zustand, als Tomate zu existieren, umschreiben soll – bei meiner eigenen Spezies eine allgemeine Hungersnot verhüten. Vorausgesetzt, ich könnte mich irgendwie in mein eigenes Sonnensystem transferieren, und zwar in einer Entfernung zur Erde, die von irdischen Raketen zu überbrücken ist. Er malte sich aus, wie Raumfähren von der Erde starteten, wie Bergbauarbeiten auf und in seiner Heimat durchgeführt und Ladungen seines nahrhaften Selbst (in Kühlboxen) zur Heimatwelt verschifft wurden, und dann schließlich die glorreiche Verteilung seiner Essenz unter den Unterernährten und Hungernden der Erde. Natürlich würde er infolge dieser andauernden Plünderungen sterben, doch andererseits konnte er mit der Genugtuung aus dem Leben scheiden, der Erlöser der ganzen Menschheit zu sein. Mehr noch: Wie Osiris, Christus, Mohammed und andere Repräsentanten der Erlösung und/oder Fruchtbarkeit, könnte er eine Wiederauferstehung erleben – besonders dann, wenn jemand so klug war, zusammen mit seinem Fruchtfleisch und Lebenssäften auch einen Ableger mit nach Hause zu nehmen. Doch das waren nutzlose Spekulationen. Philip K. war kein Prophet, ob nun blind oder sehend, und die Myrmidopteraner hatten unbekümmert damit begonnen, von ihm zu kosten. »Ach, Lydia P.« stöhnte er, als das erste Regiment Beißzangen simultan in sein Selbst bohrte. »Ach, Menschheit.«
KEINESWEGS ALS SÜCHTIGER
(Oder: Der Speichel der Ekstase)
Und so wurde Philip K. gefressen. Die Myrmidopteraner, deren Schwingen seinen ganzen, planetengroßen Körper bedeckten, veranstalteten ein Festmahl. Sie verspeisten ihn als erlesene Delikatesse. Und – er verspürte keine Schmerzen. Tatsächlich stellte Philip K. mit wachsendem Erstaunen fest, daß ihre Bisse, ihr Nagen, das grimmige Mahlen ihrer Kiefer ihm keine giftinduzierte Pein verursachte, sondern vielmehr eine Ekstase, die sein rudimentäres (aus seiner Existenzperiode als Mensch übriggebliebenes) Lustzentrum mit Hunderten von Volt speiste. Gütiger Himmel, es war nicht zu fassen! Das Vergnügen, das er aufgrund ihres unaufhörlichen Fressens empfand, war mit keiner Freude zu vergleichen, die er auf der Erde empfunden hatte. Es betraf weder das Fleischliche noch das Pflanzliche, weder das Rationale noch das Irrationale. Beachten Sie: Philip K. vermochte sich Gedanken darüber zu machen, wie gut er sich fühlte, ohne dadurch die Wirkung der ekstaseinduzierenden Myrmidopteraner zu vermindern. Dann, viel zu rasch, beendeten sie ihre Mahlzeit – nachdem sie sein orangerotes Selbst um nur einige wenige hundert Meter gestutzt hatten (ein Vorgang, der übrigens einen ganzen Philip K.-Monat gedauert hatte, obgleich er aufgrund seiner Blindheit nicht zu einer Bestimmung des Zeitraums in der Lage war). Doch kaum waren die Fresser in die leere Kälte des Alls zurückgekehrt – was ihm erlaubte, einige flüchtige Blicke auf Papa zu werfen, ein paar Sterne und die nun angeschwollenen Leiber der Ameisenmotten –, näherte sich eine zweite Welle Myrmidopteraner aus dem Weltraum, setzte auf seiner geplünderten Oberfläche zur Landung an und begann, ihn mit noch größerem
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