Willkommen in der Wirklichkeit
MYRMIDOPTERANER
(Oder: Die Spannung steigt erneut)
Während all dieser morbiden Überlegungen, eines netten Nachttages oder einer Tagnacht, wurde Philip K. von den optischen Wahrnehmungszellen in seiner Hülle (Sie sehen also, der Ausdruck »Keime des Bewußtseins« war mehr als nur eine Metapher) die Information zugeleitet, daß eine Vielzahl von aus Metall zu bestehen scheinenden Körpern aus allen Richtungen kommend in sein Sonnensystem eindrangen. Er erblickte diese Flugkörper. Er sah sie im getrübten Licht Papas funkeln (das war der Name, den Philip K. dem roten Riesen, den er umkreiste, gegeben hatte, da es zugleich naheliegend und tröstlich war, in Begriffen anthropomorphischer Kennungen zu denken), aber sie waren noch so weit entfernt, daß er keine exakte Vorstellung von ihrer Größe und Form hatte. Die meisten dieser fremden Flugkörper hatten sich inzwischen bis auf eine Entfernung genähert, die in etwa der von Papas nächsten interstellaren Nachbarn entsprach – drei Sonnen, die ein gleichseitiges Dreieck bildeten, in dessen ungefährem Zentrum sich Papa befand. Zunächst hielt Philip K. diese Eindringlinge für Sternenschiffe, und er murmelte immer und immer wieder »Lydia P., Lydia P.« – bis ihm bewußt wurde, wie albern er sich aufführte. Einem Expeditionskorps von der Erde würden auf keinen Fall so viele Schiffe angehören. Aus den Tiefen der immerwährenden Nacht kommend glitten die Metallgebilde auf ihn zu, näher und immer näher, und sie glänzten entweder silbern oder golden in der blassen Lichtlache von Papas Strahlenaura. Nachdem acht oder neun Philip K.-Tage verstrichen waren, hatten die Eindringlinge sich so weit genähert, daß er Einzelheiten erkennen konnte. Jedes Gebilde wies zwei gewölbte Schwingen auf, die wie Segel aus dem unterhängenden Torso/Rumpf emporragten, Segel so groß wie die riesigsten Wolkenkratzer auf der Erde. Diese Schwingen waren entweder silber- oder goldfarben. Sie schlugen nicht, sondern verkanteten sich leicht, wann immer es erforderlich war, um den Sonnenwind einzufangen und als Antriebskraft zu nutzen. Es war herrlich, diese funkelnden Geschöpfe – denn es waren keine Artefakte, sondern lebende Entitäten – zu beobachten, wie sie von den sanften Strahlungsböen des Universums gestreichelt dahintrieben. Der Herbst war in Philip K.s Sonnensystem eingezogen. Schimmernder Ahorn, glitzerndes Chrom. Und sie kamen von überall, diese metallenen Gottmonarchen; ihre Schwingen bedeckten die Himmelskugel wie mit kostbaren Blütenblättern, mit einer Kaskade aus perlendem Glanz und geschmiedetem Gold und Silber. »Aaahh«, murmelte Philip K. »Ooohh … Myrmidopteraner.« Diese Bezeichnung flammte mit der Glut eines sich wiederbelebenden Mythos’ in ihm auf: Myrmidon und Lepidoptera miteinander vereint. Und für Philip K. schienen seine erhabenen und majestätischen Besucher tatsächlich eine solche Kombination darzustellen.
ANSTURM
Schließlich glitten die Myrmidopteraner – oder die erste Welle von ihnen – sanft in Philip K.s Atmosphäre hinein. Jetzt schlugen die silber- und goldfarbenen Schwingen entweder, oder neigten sich, um den Flug zu erleichtern, den Aufwinden entgegen, die von seiner ungleichmäßig erwärmten Oberfläche emporstiegen. Die Myrmidopteraner kamen herunter. Philip K. spürte, wie Späne aus Metall und goldener Staub ungestüm in Das Auge, Das Er War gesät wurden; die Eindringlinge verdunkelten den Himmel und verfinsterten selbst den fetten, zornigen Papa, so daß er nur noch als blasses, rotes Glühen zu sehen war und nicht mehr als gewaltige, runde Ausdehnung. Überall war grelles Glimmen, reflektierter Schimmer und böiges Durcheinander. Was sollte diese Invasion nur zur Folge haben? Philip K. sah auf – überall an seinem Körper – und beobachtete die niederschwebenden Myrmidopteraner. Wie der erste Teil des Namens, den er ihnen gegeben hatte, schon andeutete ähnelten ihre Torsos/Rümpfe den Körpern von Ameisen – Solenopsis geminata, um genau zu sein. Auf der Erde waren solche Ameisen zu äußerst schmerzhaften Bissen in der Lage, und diese fremdartigen Geschöpfe besaßen ebenfalls Beißzangen, gefährlich aussehende Kiefer, die entweder gold- oder silberfarben waren (immer in Kontrast zur Tönung der Schwingen). Waren sie gekommen, um ihn zu verschlingen? Würde er Schmerzen empfinden, wenn sie begannen, ihn aufzufressen? »Nein, verschwindet!« wollte er rufen, aber er konnte nur schaudern und in seiner
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